Jan Neumanns Komödie Sensemann und Söhne ist eine wirksam getaktete, grundauf empathische Auseinandersetzung mit dem Exitus – man weine und gröle.
Das Scharnier des schweren Grundgerüsts ist in die Mitte des Bühnenbodens eingefasst. Es trägt die beiden Flügel der beweglichen Kulissenwand. Von den Darstellern geschoben, können sie in beliebigem Winkel zueinanderstehen. Sie erinnern an die Zeiger eines Uhrwerks. Mal zeigen sie 9:15 in einem Winkel von nahezu 180 Grad, mal lässt sich 5 vor 12 ablesen. Bei Anne-Marie Schmidt sind es fünf Minuten mehr. Anne-Marie Schmidt ist 81 und tot. Ihr Ableben wird verkündet, illustriert an den unspektakulären Zahlen ihres Lebenslaufs: Jahre der Nachtruhe, Monate des Toilettengangs, verbrauchte Klorollen, verspeiste Rinder, abgesessene Stunden vor der Tagesschau. Heirat, Scheidung, Entbindungsstation. Daten eines Lebens. Untermalt wird dieser statistische Datenschwall von kraftvollen Rhythmen und elektronischem Bass. Sie kommen einem Herzschlag, einem Timer gleich.
Jan Neumanns Mainzer Inszenierung seiner Komödie Sensemann und Söhne am Grand Théâtre bietet einen Bühnenabend, der durch sein Timing glänzt. Alles ist bis ins letzte Detail getaktet, nicht steif, nicht künstlich, nein, so, dass der Abend mitreißt. Urkomisch spielt sich das Ensemble die Bälle im Bestattungsinstitut zu, wenn die einen Verwandten jeden Cent umdrehen, die anderen auf eine Bestattung vom Feinsten bestehen. Die Formalien arten im Chaos gegenseitiger Anschuldigungen aus. Vorwurf und Nachdenklichkeit wechseln sich ab, wenn der Bestattungsunternehmer Heinrich Hensemann seiner weltoffenen Tochter die Übergabe des Unternehmens, sich selbst hingegen die Endlichkeit absprechen will. In feiner Choreografie erforscht die Tochter Todesrituale und Bestattungsfolklore an den entlegensten Orten der Welt.
Und plötzlich, am Ende dieser pulsierenden Weltenschau, erlebt das Publikum einen kurzen Moment des Rhythmus, der Pate stehen mag für so viele andere: Sebastian Kowski spielt Lehrer Schultz an der hessischen Trauerrednerakademie und sendet die seiner Ansicht nach hochprofessionelle und blutjunge Auszubildende mit den Worten „Sie können direkt anfangen“ in die Arbeitswelt. Sekunden später wechselt Kowski in die Rolle des Bestatters und Vaters und hört die Worte „Also Papa, wann kann ich anfangen?“ von seiner diplomierten Tochter Stefanie. Die Szenen wechseln Schlag auf Schlag, die Sprache sorgt für den Kitt.
Der Name des kurzfristig für Max Landgrebe eingesprungenen Schauspielers konnte vor Redaktionsschluss nicht mehr ermittelt werden. Er, Anika Baumann, Isabel Tetzner, Sebastian Kowski und Henner Momann brillieren in dieser Inszenierung, die es hinreißend und ergreifend schafft, dem Zuschauer die unterschiedlichsten Facetten der Todesbilder, der Trauerarbeit- und Verarbeitung zu veranschaulichen. Dabei schlüpfen die Darsteller*innen in mehrere handelnde und kommentierende Rollen. Sie alle stehen in einem Zusammenhang mit der Verblichenen.
Kaum eine Szene besticht so sehr, wie die des mit sich ringenden Pastors Nagel, der im Prozess der Niederschrift einer Grabrede nicht in Worte fassen kann, was für das irdische Lebensende selbstverständlich ist. Henner Momann speit das Leid an seinem eigenen Unvermögen in einem tief bewegenden Monolog aus sich heraus. Er müht sich ab an der Lebensfremdheit theologischer Nomenklatur, an den Unzulänglichkeiten christlichen Glaubens, an den Tragödien des Lebens. Unvergesslich, dieser hadernde Gottesmann.
Wenn sich die Haut an den Augenlidern am Ende eines Sterbeprozesses zusammenzieht, scheint es, als blieben die Augen leicht geöffnet und der Tote präsent. Die kalifornische Thanato-Praktikerin begräbt diesen Anblick unter einer kosmetischen Paste, der Trauerclown erleichtert mit schierem Witz. In sulawesischer Tradition sieht der Umgang mit dem Lebensende die jährliche Exhumierung und Feier mit den Ahnen vor. Kategorien wie richtig oder falsch greifen hier nicht.
„Sterben ist der totale Kontrollverlust“, stets physisch, mal geistig, bisweilen religiös. Umso tiefer bewegen die Worte über die hingebungsvolle Arbeit der Pflegekräfte in einem Hospiz, wenn um Mitternacht ein Kinderteller zubereitet, am Tage ein Fuß massiert wird. Der Tastsinn, so heißt es, sei der letzte, der schwindet.
Stell dir vor, „da geht einer, und es kommt keiner“: Zahlen und Schicksale, Ratio und Weltuntergang, und dann dieses Urkomische, das zum Grölen einlädt, einladen darf, einladen soll. Ein gesamtes Spektrum der Todesthematik bietet diese Bühnenarbeit. „Sensemann und Söhne“ – eine Zusammenarbeit des Mainzer Staatstheaters mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar – ist ganz hervorragendes, einfühlsames, bewegendes Theater über die vielen Gesichter des Todes, eine liebenswerte befreite Ausleuchtung dessen, wie jedes Leben endet.