Am vergangenen Samstag fand das Finale des Eurovision Song Contest im schwedischen Malmö statt. Stärker als jemals zuvor zeigte sich, dass der unpolitische Anspruch der European Broadcast Union und die überpolitisierte Wirklichkeit nichts miteinander zu tun haben.
Am Anfang war der Song. Er stand im Zentrum eines Wettbewerbs, in dem die beste Komposition ausgezeichnet wurde. Länder, die sich im Jahrzehnt zuvor noch mit Waffen kriegerisch gegenüberstanden hatten, stritten nun friedlich und musikalisch um eine Auszeichnung. So begann der Eurovision Song Contest (ESC) im Jahre 1956 in Lugano. Er war Friedensangebot und Kennenlern-Workshop zugleich und verstand sich vom ersten Jahr an als dezidiert unpolitisch.
Ein bisschen Frieden
Das alles begann mit nur sieben teilnehmenden Ländern. Mit einem gedeihenden Europa wuchs auch der Wettbewerb. Doch die Grundidee blieb: Der ESC stand für Völkerverständigung und Frieden. Diese Maxime fand ihren Höhepunkt 1982, als das Land, das weniger als ein halbes Jahrhundert zuvor den totalen Krieg über die Welt gebracht hatte, den Wettbewerb erstmals gewann: mit dem Titel „Ein bißchen Frieden“. War das denn keine politische Botschaft? In den Augen der European Broadcast Union (EBU), die den Wettbewerb seit 1956 verantwortet, anscheinend nicht. Denn die Forderung nach Frieden wurde als universale, eher ethische als politische wahrgenommen. Und der im Lied von Nicole besungene Frieden verharrte im Abstrakten: „Ein bißchen Frieden, ein bißchen Träumen, und daß die Menschen nicht so oft weinen.“ Bis heute ist es ein zentrales Credo des ESC, dass er eine unpolitische Veranstaltung sein will. Und genau das ist sein Problem, das sich im Jahr 2024 deutlicher darstellt als jemals zuvor.
Das Politische beim ESC
Die Kluft zwischen unpolitischem Selbstbild der EBU und politischer Praxis der Teilnehmer wurde schon häufig deutlich. 2016, also nur zwei Jahre nach der Besetzung und Annektierung der Krim durch Putin-Russland, gewann die ukrainische Teilnehmerin Jamala mit einem Lied über ihre 1944 durch das Sowjet-Regime deportierten krimtartarischen Großeltern. Die Türkei, die 2003 gewann, nimmt schon seit 2013 nicht mehr am ESC teil. Der ursprüngliche Grund war die Kränkung über das schlechte Ergebnis im Jahr zuvor. Als dann aber 2014 eine „Frau mit Bart“ für Österreich gewann, wie der damalige Generaldirektor des türkischen Staatsfernsehens TRT, Ibrahim Eren, despektierlich kundtat, war klar, dass die Türkei nicht zurückkehren würde. Die Europäer hätten ihre Werte vergessen, ärgerte sich Eren angesichts des Auftritts von Conchita Wurst. Und als Netta 2018 den Sieg für Israel holte und der ESC also im Jahr darauf in Tel Aviv ausgetragen wurde, gab es härteste Boykottaufrufe. Das Politische begleitet den Wettbewerb schon seit langer Zeit. Und in vielen eher wertkonservativ ausgerichteten Ländern muss es noch heute als politisch problematisch angesehen werden, wenn mittlerweile neben halbnackten Frauen (was nie ein Problem war) auch fast nackte Männer auftreten, vom non-binären Sieger dieses Jahres, dem Schweizer Sänger Nemo, ganz zu schweigen. Machen wir uns also nichts vor: Dieser Wettbewerb war nie und ist nicht unpolitisch.
Das, was als politisch angesehen wird und was nicht, ist sowieso geografisch unterschiedlich und hat sich auch historisch über Jahrtausende (bis in die Antike hinein) stets verändert. Ein interdisziplinärer Bielefelder Sonderforschungsbereich hat zu diesem Thema elf Jahre lang geforscht (2001 bis 2012) und interessante Ergebnisse vorgelegt. Die Grundthese: Das Politische ist nie fixiert, sondern immer Gegenstand von Deutungskämpfen. War die „Frau mit Bart“ vor zehn Jahren noch in den meisten EBU-Staaten ein Politikum, ist Nemo das heute sicherlich nicht mehr in diesem Maße – auf keinen Fall in Ländern wie Island oder Deutschland, wo das dritte Geschlecht personenstandsrechtlich eingeführt ist. War das Wort Frieden 1982 noch eine unschuldige Selbstverständlichkeit, kann es heute zum Skandal werden, wenn die ADR mit „The Knotted Gun“ in den Europawahlkampf zieht oder die AfD sich als Friedensbringer gegenüber den „Kriegstreibern“ von den Grünen inszeniert. Die Gretchenfrage also ist nicht die, ob der Wettbewerb politisch ist oder nicht (er ist es), sondern die, was in den Augen der EBU, die noch immer ihr unpolitisches Selbstbild vertritt, als politisch angesehen wird und was nicht.
Wenn man sich anschaut, wie der diesjährige Wettbewerb abgelaufen ist, und auch die Ereignisse am Rande der Übertragungen berücksichtigt, muss man feststellen, dass anscheinend die Diskriminierung, Einschüchterung und Demütigung einer jüdischen Künstlerin nicht als politisch angesehen wird. Denn genau das ist geschehen. Genau das hat die EBU zugelassen.
Die Jüdin muss sich verstecken
Los ging dieser unverzeihliche Skandal damit, dass die diesjährige israelische Teilnehmerin Eden Golan ihren Text auf Forderung der EBU mehrfach umschreiben musste. Frühere Versionen waren in den Augen der ESC-Organisation zu politisch. In der ersten Version ihres Beitrags, der damals noch „October Rain“ hieß, sang sie harmlos im Refrain: „I’m still wet from this October rain.“ Doch in den Augen der EBU war das Wort Oktober eindeutig zu politisch, verweise zu eindeutig auf die Massaker vom 7. Oktober 2023, sodass Eden Golan schließlich mit dem Vers „I’m still broken from this hurricane“ antrat. Als sie in Malmö anreiste, war ihr sicherlich nicht bewusst, was für ein „Hurricane“ ihr persönlich noch bevorstehen würde.
Eden Golan wurde von den Organisatoren streng geraten, sich während der Veranstaltungstage auf dem Hotelzimmer aufzuhalten. Die EBU und die Sicherheitskräfte vor Ort sahen sich nicht in der Lage, sie angesichts zahlreicher angemeldeter und genehmigter pro-palästinensischer Demonstrationen jenseits ihres Zimmers zu beschützen. Abgesehen von der skandalösen Tatsache, dass ein Land wie Schweden glaubt, nicht für die Sicherheit einer jüdischen Israelin aufkommen zu können, setzt dies auch ein fatales Zeichen an die Protestierenden auf der Straße. Frei nach dem Motto: Wenn ihr nur laut genug seid, verstecken sich die Juden von ganz allein. Aber auch in den wenigen Momenten, in denen die Künstlerin so tun durfte, als sei sie eine normale Teilnehmerin wie alle anderen, versauten ihr wahlweise das Publikum oder ihre Mitstreiter die Freude am ESC. Während einer Pressekonferenz, auf der Golan höflich Fragen beantwortete, tat die griechische Teilnehmerin so, als würde sie einschlafen, und der holländische Teilnehmer zog sich eine Flagge über den Kopf. Die irische Teilnehmerin weinte vor politischer Verzweiflung, als bekannt wurde, dass Israel den Sprung ins Finale geschafft hatte. Diese Tränen zählte die EBU nicht als politisch, das Wort „Oktober“ aber schon. Zeitgleich wurden in Kopenhagen das Denkmal zu Ehren der Rettung der Juden während der Shoah und in den Niederlanden Stolpersteine für im Holocaust ermordete Juden geschändet, und in Malmö gingen bei mehreren Demonstrationen jeweils mehr als 10 000 Menschen unter Beteiligung von Greta
Thunberg auf die Straßen, um gegen die Teilnahme der israelischen Künstlerin zu protestieren. Dass Eden Golan all das überhaupt ausgehalten hat, um dann noch im zweiten Halbfinale am Donnerstag und im Finale am Samstag tapfer zu singen, grenzt an ein Wunder. Und als sei das alles nicht genug, wurde sie dort auch noch ausgebuht, wie kein anderer Künstler vor ihr in der fast 70-jährigen Geschichte des ESC.
Was wir in der vergangenen Woche in Malmö erlebt haben, ist nicht nur eine Politisierung eines ohnehin politisch durchzogenen Wettbewerbs, sondern der Verlust jeglicher Standards eines fairen Wettkampfs. Die EBU ist an ihrem Anspruch gescheitert, Hass von einer Teilnehmerin fernzuhalten. Das Ganze gipfelte dann noch in der während einer Presskonferenz gestellten Frage eines polnischen Journalisten, der wissen wollte, ob Eden Golan jemals darüber nachgedacht habe, dass sie mit ihrer Anwesenheit ein Risiko und eine Gefahr für andere Teilnehmer und die Öffentlichkeit darstelle. Da wird – Juden sind es gewohnt – das Opfer zum Täter gemacht, und der Jüdin wird vorgeworfen, dass andere sie hassen. Es gab bei diesen Vorfällen und den Demos in Malmö keine einzige kritische Stimme zur Hamas, die das schlimmste Massaker an jüdischen Menschen seit dem Holocaust zu verantworten hat und als de facto-Regierung Gazas die eigene Bevölkerung als menschliche Schutzschilde instrumentalisiert. Stattdessen wurde Eden Golan als der personifizierte Feind ausgemacht, der nicht nur Buh-Rufe und Pfiffe, sondern sogar Morddrohungen erhielt.
Die schweigende Mehrheit hat entschieden
Das Interessante bei der ganzen Geschichte ist, dass Straße und Saal zwar laut waren und die Votings der internationalen Jurys bescheiden für Israel ausfielen, die Stimmen der Zuschauer (die zweitmeisten Zuschauer-Punkte gingen an Golan) aber letztendlich den Ausschlag dafür gaben, dass Israel auf dem fünften Platz landete – auch wenn man nicht wissen kann, ob dies Solidaritätsgesten waren oder Stimmen, die sich von einer perfekt komponierten und vorgetragenen Ballade haben überzeugen lassen. Eine Minderheit kann laut sein und sich im Recht sehen, aber sie stellte letzten Samstag nicht die Mehrheit. Diese wurde gebildet von den bequemen Menschen – dem Autor inklusive–, die auf den Sofas in ganz Europa saßen und zum Telefon griffen.
Identitäre Angriffe auf den anti-identitären ESC
All die Boykottversuche, die es im Vorfeld des ESC gegen Israel gab und denen die EBU glücklicherweise widerstand, haben eines deutlich gemacht: Die Logik des Boykotts widerspricht der ESC-Kernidee zutiefst. Denn diese Logik ist eine fundamental identitäre, weil sie nicht nur Waren, sondern auch Menschen aufgrund ihrer Herkunft für ein Verhalten in Haft nimmt, mit dem die boykottierten Personen rein gar nichts zu tun haben. Diese identitätspolitische Haltung, die nichts mit europäischen oder ESC-Werten zu tun hat, konnten wir auch nach dem Sieg Talis, die Luxemburg das erste Mal seit einer 31-jährigen Pause mit dem Song „Fighter“ in Malmö vertrat, beobachten, als Serge Tonnar sich nach ihrem Sieg im luxemburgischen Vorentscheid auf Facebook darüber beschwerte, dass kein einziger der acht Kandidaten mit einem Lied „in unserer Muttersprache“ angetreten und dass der Siegersong gar von einem internationalen Team geschrieben worden sei (beides ist gängige Praxis beim ESC). Was Tonnar und andere identitätsbewegte Aktivisten von links wie von rechts nicht verstehen: Der ESC ist radikal anti-identitär sowie postnational.
Man kann beim ESC nie für das eigene Land abstimmen. Man ist bei diesem Wettbewerb, wenn man sich beteiligen möchte, quasi gezwungen, sich auf die Beiträge der anderen Länder einzulassen und sie – anders als bei einer Fußball-EM – zu unterstützen. Dies ist europäische Integration in Vollendung, was all die Buh-Rufer und Aktivisten, die Eden Golan lautstark angingen, aber nicht begreifen. Sie haben in ihrem Hass auf eine jüdische Künstlerin den „Focus on Identity“ gelegt, das Motto des ESC aber war „United by Music“.
ESC 2025ff.
Wie der Wettbewerb nach dem Skandal dieses Jahres weitergehen soll, wird sich noch zeigen. Ein weiteres Beispiel zur „unpolitischen“ Haltung der EBU gibt Anlass zur Sorge. Wie Radio 100,7 am vergangenen Dienstag berichtete, soll Zuschauern, die Europa-Fahnen bei sich hatten, der Zutritt zum ESC-Finale von den Sicherheitskräften verwehrt worden sein. Die EBU begründete dies mit dem abstrakten Argument einer angespannten geopolitischen Situation. Darauf kann es nur eine Antwort geben: Wenn ein europäischer Wettbewerb wie der ESC Europa-Fahnen für zu politisch hält, können wir das ganze Projekt ESC einstampfen. Das wäre dann sicherlich auch im Interesse all der rechtsradikalen Parteien in ganz Europa, die fordern, dass die EU in einen lockeren Bund europäischer Staaten umgewandelt werden müsste. Die Wahlen im kommenden Monat werden zeigen, in welchem Ausmaß die EU-Wähler auf diesen Mumpitz reinfallen. Aber wenn die ESC-Maxime des Unpolitischen dazu führt, dass man bei diesem Wettbewerb keine Europa-Fahne mehr wehen lassen darf, hat sich Europa aufgegeben. Und spätestens dann muss man – als Freund des ESC und als überzeugter Europäer – für eine selbstbewusste Politisierung des ESC plädieren. Es mag sein, dass in Zeiten sich pluralisierender Wertvorstellungen dem einen oder anderen europäische Werte gegen den Strich gehen (die Hamburger Kalifats-Träumer würden es Wertediktatur nennen), aber ein ESC muss genau diese Werte standhaft und selbstbewusst verteidigen. Und dazu gehört eben auch, dass weder eine jüdische noch eine christliche, muslimische oder atheistische Künstlerin jemals wieder derart aufgrund politischer Konflikte ausgebuht werden darf.
Luxemburgs Comeback
Luxemburg hat bei seinem Comeback nach 31 Jahren übrigens alles richtig gemacht. Beim Vorentscheid, der im Januar in der Rockhal stattfand und der bis ins kleinste Detail professionell und liebevoll produziert war, wurde aus acht sehr guten Titeln der Song gewählt, der echte Chancen auf einen Gewinn hatte (Platz 13 ist tatsächlich ein würdiger Comeback-Platz). Tali hat fantastisch gesungen, eine tolle und sympathische Show abgeliefert, und die Überarbeitung des Songs, die es vor dem Wettbewerb noch gab, hat sich gelohnt. Man kann nun berechtigt hoffen, dass Luxemburg auch im kommenden Jahr wieder dabei sein wird.
Zahlreiche andere Songs des diesjährigen Wettbewerbs wären in einem Beitrag wie diesem zu erwähnen: angefangen beim Ohrwurm der Ukrainerinnen (Platz 3) über die Mitgröl-Rock-Nummer der Kroaten (Platz 2) bis hin zur griechischen Rosalía-Epigonin Marina Satti (Platz 11). Auch einige Peinlichkeiten könnte man, wie jedes Jahr, aufzählen, von denen die schlimmste die der Finnen mit ihrem pubertären und abgestandenen Penis-Humor war. Man könnte darüber rätseln, warum so viele Sängerinnen mit exakt vier Tänzern auftraten. Man könnte auch erwähnen, dass die schwedischen Produzenten dieses ESC drei in jeder Hinsicht perfekte Shows auf die Bühne gebracht haben und dass die Moderatorinnen mit ihrem trockenen Humor zu den besten der langen ESC-Geschichte zählen dürften (was man von den kommentierenden Neulingen im luxemburgischen und im deutschen Fernsehen leider nicht behaupten kann). Aber für diese Aspekte ist kein Platz, weil das Politische nicht nur den ESC, sondern auch die Berichterstattung darüber durchkreuzt hat.
Lang lebe der ESC!
Bei diesem ESC wurde der Code gebrochen. Nicht vom non-binären Künstler Nemo („I broke the code“), sondern von einem Publikum im Saal und Demonstranten davor, die in ihrem antisemitischen Furor eines der schönsten TV-Ereignisse des Jahres und seine Werte zerstört haben. Im Januar ist der Luxemburger Siegerin Tali ihre Trophäe heruntergefallen, letzten Samstag ist dem ESC-Gewinner Nemo das Gleiche passiert. Vielleicht ein gutes Zeichen? Der ESC ist tot – lang lebe der ESC! Rise like a Phoenix!