Gesundheitsministerin Paulette Lenert bereitet sich auf einen langen Kampf gegen das Virus vor und hält nichts von einer überstürzten Rückkehr in die Normalität

„Dann wird es verdammt schwierig“

Gesundheitsministerin Paulette Lenert in ihrem Büro in der Villa Louvigny
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 10.04.2020

Sie ist das Gesicht des Krisenmanagements: Paulette Lenert (LSAP). Wer zur Gesundheitsministerin will, muss zunächst vorbei an den Soldaten vor der umzäunten Villa Louvigny. Auf dem Weg dorthin nähert sich am Mittwoch im Schritttempo eine schwarze Limousine vom Parking. Sie bleibt stehen, das hintere Fenster öffnet sich. Ein Mann ohne Maske, aber mit freundlichem Gesicht sagt: „Sie werden bereits erwartet.“ Es ist Premiermister Xavier Bettel. Das Fenster schließt sich, die Limousine fährt wieder los. Das Gespräch kann beginnen.

d’Lëtzebuerger Land: Frau Lenert, wir erleben gerade die strengsten staatlichen Maßnahmen in der Geschichte der Bekämpfung einer Epidemie. Es ist geradezu erschreckend, wie leicht es war, die Gesellschaft in einen autoritären Gesundheitsstaat zu verwandeln. Die große Frage lautet jedoch: Wie kommen wir da wieder raus?

Paulette Lenert: Wir waren alle in einer Schockstarre durch die furchtbaren Bilder aus Italien, Spanien und Frankreich. Eine solche Situation galt es bei uns zu vermeiden. Also mussten wir schnell entscheiden. Und wir haben Ausgangsbeschränkungen beschlossen, die tatsächlich brutal sind, die jedoch in allen Teilen der Bevölkerung und des Landes sehr schnell akzeptiert wurden und bis heute eingehalten werden. Wir haben die Handbremse gezogen. Aber ich befürchte, das war der leichte Teil.

Wie wollen Sie die Bremse denn wieder lockern?

Die größte Sorge ist weiterhin, dass die Infiziertenrate exponentiell steigt, so dass unser Gesundheitswesen überlastet würde. Und das wird ohne Zweifel geschehen, wenn wir jetzt wieder alle Maßnahmen lockern. Uns schwebt vor, schrittweise zur Normalität zurückzukehren. Also nach und nach die Bremse zu lösen. Aber ich will da niemandem etwas vormachen, das wird ein echter Challenge, die Quadratur des Kreises, wenn Sie so wollen.

Wie müssen wir uns das vorstellen?

Wir sind seit vergangenem Wochenende dabei, unterschiedliche Leitsektoren in der Gesellschaft und der Wirtschaft zu definieren, die wir gegebenenfalls wieder öffnen wollen. Das ist allerdings ein Drahtseilakt, da wir nicht einfach blind die Restriktionen für einen Bereich lockern können, ohne die Konsequenzen zu überdenken. Was isoliert betrachtet, äußerst sinnvoll erscheint, funktioniert manchmal im Großen nicht.

Das heißt, solange die Schulen geschlossen sind, kann der Bausektor nicht wieder öffnen, der unseren Information nach als prioritär eingestuft wird?

Genau. Ohne Öffnung der Schulen können wir die Menschen kaum wieder zur Arbeit schicken. Aber ich will jetzt nicht zu sehr auf Details dieser Diskussion eingehen, die wir gerade intern mit allen Ministerien führen.

Wann wird die Exit-Strategie denn vorgestellt?

Der Premierminister wird in der Wochen nach Ostern den Stufenplan zur Lockerung der Restriktionen vorstellen. Die Idee ist, eine Vision davon zu vermitteln, wie wir den Ablauf und die sukzessiven Schritte zurück in die Normalität planen und umsetzen wollen. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Krankheitsverlauf immer mit einem Zeitverzug von rund zwei Wochen nach der Infektion rechnen müssen, bis ein Patient Intensivmedizin braucht. Wir sehen gerade einen positiven Trend, die Kurve konnte abgeflacht werden, aber es ist noch zu früh für Entwarnung. Deshalb plädiere ich auch nicht für eine überstürzte Rückkehr in die Normalität.

Epidemiologen gehen davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung immunisiert sein müssen, bevor wir wieder zum normalen Alltag zurückkehren können. Laut aktuellen Zahlen würde das hochgerechnet noch zehn Jahre dauern. Sie können doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, die Menschen zehn Jahre einzusperren?

Nein. Auf keinen Fall. Aber wir kennen die Dunkelziffer der tatsächlich Infizierten nicht. Und die ist entscheidend für sämtliche Prognosen. Denn wir müssen davon ausgehen, dass es viele Infizierte ohne jegliche Symptome gibt. Mit den derzeitigen Abstrichtests ist die genau Zahl jedoch nicht zu ermitteln. Deshalb haben wir jetzt einen Herdentest mittels Antikörpern begonnen, um genau festzustellen, wie stark die Bevölkerung bereits durchseucht ist.

Dieser neue Test untersucht Antikörper, die sich infolge einer überstandenen Infektion bilden. Ist denn der Stand jetzt eigentlich klar, ob geheilte Patienten auch immun sind?

Nein. Es deutet sehr viel darauf hin, aber es bleibt eine Annahme. Ein Virus mutiert, und auch die Spanische Grippe von 1918 kam beispielsweise in einem zweiten Schub noch einmal zurück.

Trotzdem sprechen sie von geheilten Patienten. Wie werden diese eigentlich ermittelt?

Wir orientieren uns da mit aller Vorsicht an den Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation. In Luxemburg gelten Menschen 14 Tage nach positivem Test und nach 48 Stunden ohne Symptome als geheilt.

Das heißt, es ist lediglich ein Datum, keine Diagnose.

Personen gelten nach einer definierten Zeitspanne als geheilt. Wir können uns gerade nicht erlauben, doppelte Tests zu machen.

Aber was machen wir, wenn die Dunkelziffer der Infizierten noch nicht sonderlich hoch ist, wovon die meisten Experten tatsächlich ausgehen?

Dann wird es verdammt schwierig. Und es riskiert eine sehr lange Geschichte zu werden.

Also doch Restriktionen über mehrere Jahre gestreckt?

Nein, so weit würde ich nicht gehen. Ich will den Teufel jetzt nicht an die Wand malen. Denn es wird auch Fortschritte in den Therapiemöglichkeiten geben. Wir testen ja bereits einige Medikamente, und in sechs Monaten wird es sicherlich Mittel geben, mit denen die Symptome effektiv behandelt werden können.

Ein Impfstoff wird hingegen erst frühestens im kommenden Jahr zur Verfügung stehen.

Ja, es geht stets die Rede von 2021 oder 2022, es ist ein Kampf gegen die Zeit. Aber ganz ehrlich: Auch das kann derzeit niemand mit letzter Sicherheit sagen. Der Forschungsstand variiert äußerst schnell.

Staaten in Ostasien schlagen bei der Bekämpfung zum Teil andere Wege ein – so gibt es dort zum Beispiel eine Maskenpflicht.

Masken werden sicher ein Teil der Lösung sein auf dem Weg zurück in die Normalität. Wir können sie den Menschen jedoch erst vorschreiben, wenn wir genügend Material haben. Das wird hoffentlich bald der Fall sein. Aber auch Masken sind, wie nahezu alle Experten sagen, kein alleiniges Instrument zur Epidemie-Eindämmung.

Wie sieht es denn mit einem Impfpass oder einer Tracking-App aus?

Ich bin weder von einem Impfpass noch von einer Tracking-App überzeugt. Gerade Letztere halte ich für äußerst gefährlich in Bezug auf Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre. Und das sehen auch alle anderen Regierungsmitglieder so. Die Länder, in denen mit dieser Überwachungssoftware auf dem Smartphone gearbeitet wird, haben eine andere Auffassung von Demokratie und Freiheit als wir. Ich kann mir nicht vorstellen, diesen Weg einzuschlagen. Denn wir müssen Vorsicht walten lassen und auch in der Krise abwägen, ob vermeintlich sinnvolle Entscheidungen von heute keine gefährlichen Standards für morgen setzen.

Bisher zögern noch nahezu alle, die Restriktionen in Frage zu stellen: Wer etwa wirtschaftlichen Utilitarismus gegenüber Menschenleben abwägt, wird als Zyniker moralisch abgekanzelt.

Ich halte es für ethisch nicht vertretbar, dass wir aus wirtschaftlichen Gründen Menschenleben opfern. Schauen Sie sich nur die Bilder im Grand Est oder in Italien an, Bergamo hat mehr Tote zu beklagen als im Zweiten Weltkrieg. Das sind gut aufgestellte Gesundheitssysteme, die in kürzester Zeit vor dem Super-Gau standen. Und das droht uns auch, wenn wir aus ökonomischen Erwägungen vom aktuellen Kurs abweichen. Deshalb verbiete ich mir solche Gedankenexperimente, diese Fragen soll man noch nicht einmal andenken.

Trotzdem: Ist es nicht etwas zu simpel gedacht, nur auf den Gesundheitsbereich zu blicken? Durch den Ausnahmezustand entstehen wirtschaftliche, gesellschaftliche, aber auch gesundheitliche Schäden, die man als Regierung doch nicht einfach ignorieren kann.

Das tun wir nicht. Es gibt Kollateralschäden, die wir nicht von der Hand weisen können. Unter keinen Umständen ist ein Confinement bis in die Ewigkeit wünschenswert. Wir stellen auch fest, dass die Sorgen der Menschen täglich zunehmen, dass es auch bereits psychologische Probleme gibt. Und die Menschen zögern, ein Krankenhaus aufzusuchen, was auch ein Problem ist. Wir arbeiten deshalb alle daran, einen Weg aus der Krise zu finden, um die Schäden in allen Bereichen der Gesellschaft gering zu halten.

Wer entscheidet eigentlich aktuell in der Krise? Für manche gelten Sie derzeit als eine Art Schattenpremierministerin.

Nein, auf keinen Fall. Jeder Minister greift auf seine Experten zurück. Und das Staatsministerium leitet interministerielle Gruppen bei der Planung einer Exit-Strategie. Am Ende werden die Entscheidungen im Regierungsrat getroffen, genauso wie in der Vergangenheit.

Aber momentan herrscht das Primat von Safety first. Also kann man doch davon ausgehen, dass Sie als Gesundheitsministerin ein größeres Gewicht haben als der Wirtschaftsminister?

Ja. Das ist aktuell tatsächlich so. Aber die Diskussionen verlaufen in einem verständigen Rahmen und offen. Ich bin ein Teil eines Teams.

Kann Luxemburg als kleiner Staat überhaupt souverän in einer solchen weltweiten Krisensituation entscheiden?

Wir tauschen uns mit den Nachbarstaaten über Exit-Strategien aus. Es ist unser ausdrücklicher Wunsch, mit den EU-Staaten konzertierte Lösungen zu finden. Aber wenn Sie mich jetzt danach fragen wollen, ob ich daran glaube, muss ich wohl abwinken.

Weil die bisherige Zusammenarbeit derart suboptimal war?

Jeder Staat geht mit ähnlichen Mitteln gegen das Virus vor, aber jeder tut es für sich allein. Wir sind bei der Grenzziehung vor vollendete Tatsachen gestellt worden und können uns über die diplomatischen Zusagen glücklich schätzen, dass Grenzgänger nicht für ihre nationalen Gesundheitssysteme einberufen werden. So stelle ich mir Europa nicht vor.

Sie betonen immer wieder, dass wir in Luxemburg keine Staatsmedizin haben und demnach nicht alles staatlich koordinieren können. Doch selbst jedes liberale Finanzinstitut muss ein Mindestmaß an Eigenkapital besitzen, um in einer Krise liquide zu bleiben. Warum müssen Krankenhäuser kein Mindestmaß an medizinischem Reservematerial haben?

Das ist in der Tat ein Versäumnis der Vergangenheit. Wir haben zwar aufgrund des Plan Pandémie eine staatliche Notreserve. Aber es hat sich jetzt in der Krise gezeigt, dass viele nur über sehr geringe Reserven verfügen, weil es eben keine klaren Vorgaben gab. Wenn ich nach der Krise noch als Gesundheitsministerin im Amt sein sollte, werde ich das sicher ändern.

Sie genießen aktuell große Popularität, alle lieben Paulette – überrascht Sie das?

Ja. Ich glaube aber nicht, dass das an meiner Person liegt, sondern eher der Situation geschuldet ist. Wir treten in der Regierung, aber auch im Gesundheitswesen, geschlossen auf und machen als Gesellschaft eine schwere Zeit durch. Und wenn die Menschen verängstigt sind, neigen sie dazu, sich auf eine Person zu fokussieren.

Angst kann jedoch schnell in Wut umkippen. Und wenn Menschen wütend sind, richten sie sich in der Regel gegen ihre Regierungen.

Diese Gefahr besteht. Ich bin mir bewusst, dass die Zustimmung schnell kippen kann und wir noch gewaltige Herausforderungen vor uns haben. Bereits jetzt hört man erste Stimmen, die sagen, dass doch alles nicht so schlimm auf der Intensivstation sei…

Ist es die Bürde der aktuellen Politik, dass im besten Fall die Kritiker sagen werden, dass die Regierung deutlich übertrieben hat?

Ja. Denn das würde bedeuten, dass das Gesundheitswesen stabil geblieben ist und wenige Menschen verstorben sind. Mit dieser Kritik könnte ich also gut leben.

In der vergangenen Ausgabe des Land stand, dass Luxemburg sich nach einer Testphase auf internationale Empfehlung hin gegen den Einsatz der umstrittenen Medikamente Chloroquin und Hydroxychloroquin entschieden hätte. Das entspricht nicht den Tatsachen. Richtig ist, dass Luxemburg neben Kaletra und Remdesivir auch weiterhin auf die Medikamente Chloroquin und Hydroxychloroquin in der Therapieanwendung gegen Covid-19 setzt. Es handelt sich dabei um Mittel, die Off-Label benutzt werden und in der Regel nur in Krankenhäusern in den Einsatz kommen mit Einwilligung der Patienten, wie Santé-Direktor Jean-Claude Schmit mitteilt. „Der Vorteil dieser Medikamente ist, dass wir sie schon seit mindestens 50 Jahren kennen und damit auch die Nebenwirkungen einschätzen können. Das Risiko ist demnach zu kalkulieren.“ Dennoch handelt es sich bei Chloroquin nicht um ein „Wundermittel“, wie etwa vom französischen Mediziner Dr. Didier Raoult angeführt. Die Mittel würden jedoch gerade in weniger schweren Fällen positive Wirkung zeigen, so Schmit. „Es fehlt allerdings eine groß angelegte Studie, die den Wirkungsgrad von Chloroquin genau erfasst.“

Pol Schock
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