Noch knapp zwei Wochen waren es am vergangenen Wochenende bis zum 1. Januar 2021, jenen Tag, an dem Großbritannien endgültig den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. Die Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen hatten bis Redaktionsschluss kein Ergebnis. Auch eine Frist des Europaparlaments bis spätestens Sonntagabend wurde ignoriert.
Ob es überhaupt noch zu einen „Deal“ kommen kann, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Das EU-Parlament will jedenfalls nicht mehr vor Jahresende darüber abstimmen, könnte dies jedoch bei einer Einigung im neuen Jahr, wenn auch widerwillig, nachholen. Eine Verlängerung der Verhandlungen ins neue Jahr ist für die britische Regierung aber ausgeschlossen.
Es mag überraschen, dass all dies am vergangenen Wochenende und zu Beginn der Woche gar nicht einmal Hauptthema in Großbritannien war. Dies war stattdessen VUI2020/12/01, der Name einer neuen Mutation des Sars-CoV-2-Virus. Was die in einem Patienten im September gefundene Mutation bedeutet, wurde erst ab dem 11. Dezember klar, die kausalen Zusammenhänge somit erst eine Woche danach.
Die Mutation hatte im Vereinigten Königreich zu einem 52-prozentigen Anstieg der Covid-19-Infizierungen innerhalb nur einer Woche geführt. Der neue Strang soll rund 70 Prozent ansteckender sein als das herkömmliche Covid-19, jedoch nicht kranker machen. Die bisherigen Impfstoffe – Großbritannien hat inzwischen 500 000 Menschen die erste Dosis verabreicht – sollen höchstwahrscheinlich auch gegen die Mutation wappnen können.
Bereits am Tag nach der Veröffentlichung dieser Tatsachen verhängte die britische Regierung am vergangenen Samstag über die betroffenen Regionen in Ost-und-Südostengland und über London eine neu geschaffene Höchststufe zur Bekämpfung der Neuausbreitung von Covid-19. Personen sollen sich möglichst zuhause aufzuhalten. Das Reisen aus den betroffenen Zonen ist bis auf wenige Ausnahmen untersagt. Über Wales, Schottland und Nord-irland wurden ähnliche Maßnahmen verhängt.
Noch am 23. November hatte Premier Boris Johnson nach dem vergangenen Lockdown für Weihnachten ein gegenseitiges Besuchen von bis zu drei Haushalten über einen Zeitraum von fünf Tagen versprochen. Als die Virusverbreitung jedoch stark anstieg, forderten verschiedene Expert/innen, darunter der britische Ärzteverband, eine Begrenzung der weihnachtlichen Pläne. Vorvergangenen Mittwoch verlangte dies auch Oppositionsführer Keir Starmer, nur um von Johnson als Weihnachtsverderber angeprangert zu werden. Als Johnson dann drei Tage später selber zum Weihnachtsverderber wurde, hielten viele sein Handeln als völlig verspätet. Konservative Hinterbänkler fühlen sich zudem um ihr demokratisches Mitspracherecht betrogen.
Um Weihnachtendoch noch wie geplant zu feiern, versuchten Schnellentschlossene nach Ankündigung der neuen Maßnahmen noch rasch London zu verlassen. An den Bahnhöfen herrschte Massenandrang, teilweise ohne physische Distanz. Als am Sonntag Gleiches am Londoner Flughafen Gatwick geschah, orderte die Regierung Polizeibeamte vor die Bahnhöfe und Flughäfen, allerdings nur, um Personen ins Gewissen zu reden. Schließlich beförderte der Eurostar keine Passagiere mehr von Großbritannien nach Frankreich oder Belgien. Ein Land nach dem anderen verhängte ein Einreiseverbot für Menschen aus Großbritannien, darunter das Großherzogtum.
Frankreich hat am Sonntag nicht nur privaten Personenverkehr verwehrt, sondern auch Speditionsfahrzeugen. Da 90 Prozent aller Speditionsfahrzeuge zwischen Großbritannien und dem Kontinent die Strecke zwischen Dover und Calais benutzen – täglich sind es bis zu 10 000 Fahrzeuge – war ein Verkehrs-und-Lieferchaos programmiert, wie es manche erst für Januar wegen dem Ende der Übergangszeit möglich hielten.
Obwohl nur 20 Prozent der britischen Ein-und Ausfuhr in EU-Staaten betroffen war, blieben hunderte von LKW Fahrer/innen in Autobahnschlangen stecken. Die britischen Spediteurvereinigung hielt das Einreiseverbot für falsch, da für LKW-Fahrer/innen soziale Isolation zum Job gehöre. Ein Ende der Sperre für Brummifahrer/innen, die vor der Abfahrt Coronavirustests ablegen müssen, steht in Aussicht. Während LKW-Fahrer hupend protestierten, behauptete Boris Johnson und sein Verkehrsminister, sie hätten das Chaos aufgrund von Brexitvorkehrungen gut gemeistert.
Johnson erzählte am Montag, er habe sich außerdem sehr gut mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron über die Krise vor Dover unterhalten. Ein direktes Gespräch wurde Johnson vorher von der EU untersagt, obwohl ein Kompromiss zwischen beiden Staatsführern zu den Fischrechten den Weg zum Freihandelsabkommen ebnen könnte. Laut Johnson hätten beide Politiker beim Anruf kein Wort über die Verhandlungen verloren. Doch Stimmenn behaupteten danach, hinter den Kulissen habe es Konzessionen im Fischbereich gegeben. Es war beim Gespräch Macrons Geburtstag, sagte Johnson noch.