Die EU und Großbritannien würden nun doch die Extra-Meile gehen, verlautete am vergangenen Sonntag die gemeinsame Erklärung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem britischen Premierminister Boris Johnson, an einem Tag, der eigentlich der Schlusspunkt Verhandlungen über einen Freihandelsvertrag zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sein sollte. Dieser soll die Beziehung zwischen den beiden Seiten nach Ablaufen der Brexit-Übergangsphase am 31. Dezember regeln. Noch am 22. Januar dieses Jahres versprach Johnson dem britischen Unterhaus „einen Deal“ bis zum 31.12., „zu dem alle singen und tanzen würden.“
Mitte Dezember läuft die Zeit zu einer solchen Einigung jedoch rasch aus. Selbst wenn es noch Ende dieser Woche, wie der EU-Botschafter Deutschlands Michael Clauss einschätzte, oder kurz danach, zu einer Einigung kommen könnte, müssen beide Seiten, so verlangen es die Zahnräder der Demokratie, einem derartigen Abkommen nach tiefgehender Prüfung auch noch parlamentarisch zustimmen. Auf beiden Seiten wurden Parlamentarier/innen und die Mitglieder des Europäischen Rates bereits gewarnt, dass es aus diesem Grund zu Sondersitzungen kurz vor und nach der Weihnachtszeit bis einschließlich dem 31.12. kommen kann.
Sollten die beiden Seiten nicht, oder nicht rechtzeitig zu einer Einigung kommen und deswegen auf die Richtlinien der Welthandelsorganisation (WTO) zurückfallen, wird es jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem regelrechten Handelschaos zwischen der EU und Großbritannien kommen. Bereits jetzt ist der Verkehr zwischen beiden Seiten äußerst strapaziert. LKW-Schlangen ziehen sich über viele Kilometer vor den Häfen auf beiden Seiten entlang. Die Gefahr eines ungeregelten Brexit führte dazu, dass viele Unternehmen und Supermärkte versuchen, Waren aufzustocken. Gleichzeitig operieren aber die Häfen und Fähren aufgrund der Pandemie nicht auf Vollkapazität, um so die Verbreitung des Coronavirus zu unterbinden. Obendrauf kamen extra Bestellungen und Lieferungen für die Festtage. Honda, Jaguar und Land Rover mussten aufgrund fehlender Teile ihren Betrieb kurzfristig einstellen. Unter solchen Bedingungen können auch Frischprodukte schwer transportiert werden.
Kein Wunder also, dass es Aufrufe, wie vom irischen Taoiseach Micheál Martin, aber auch von höchster Stelle in den Niederlanden, Belgien und der Bundesrepublik gab, welche die beide Seiten dazu ermunterten, weiter zu verhandeln. Bis vor der Erklärung der Weiterführung der Gespräche am letzten Sonntag hatten sich nämlich die Wolken über den Ärmelkanal stark verdunkelt, als beide Seiten ihre „signifikanten Verschiedenheiten“ als kaum überwindbar darstellten.
Hoffnung gab schließlich die Ankündigung, dass Großbritannien verschiedene Klauseln in neuen Gesetzesanträgen, die direkt dem Übergangsvertrag des letzten Jahres widersprachen, bei einer Einigung mit der EU streichen würde. Kurz danach folgte eine separate Einigung zwischen der EU und dem Vereinigte Königreich zum Handel zwischen Irland, Nordirland und Großbritannien. Doch ein gemeinsames Abendessen zwischen von der Leyen und Johnson in Brüssel am Mittwochabend der gleichen Woche mäßigte die Hoffnungen wieder.
So erklärte Johnson vergangenen Freitag ein Brexit nach WTO-Richtlinien sei „sehr, sehr wahrscheinlich.“ Um den Willen hierzu zu unterstreichen, wurden von seiner Regierung ganze vier Milliarden Pfund zur Gewährleistung der Lebensmittelversorgung nach dem 31. Dezember locker gemacht. Weitere umgerechnet neun bis elf Milliarden Euro wurden zudem bereitgestellt, um die britischen Landwirtschafts-, Fischerei- und Industriesektoren im Falle eines „No-Deals“ zu entschädigen. Auch auf Seiten der EU wurde schnell erklärt, die EU stehe durchaus für einen „No-Deal“ bereit. Als Beweise der Ernsthaftigkeit auf ihrer Seite wurden Überbrückungspläne für die Luft-und-Seefahrt und dem digitalen Handel genannt.
Doch Großbritannien verstand es, dem noch eins drauf zu legen, mit einer Ankündigung, dass die Militärpolizei der britischen Marine – in der Boulevardpresse schlicht und provokativ als Kanonenboote beschrieben – nach dem 31. Dezember versuchen könnte, EU-Fischereibooten den Zugang zu britischen Hoheitsgewässern zu verwehren. Derzeit wird 60 Prozent allen Fisches in diesen Gewässern von Booten unter ausländischer Fahne gefangen. Dimitri Rogoff, der Präsident des regionalen französischen Fischereikomitees Normandie Fraicheur Mer, reagierte kampfbereit. Seine Mitglieder und wohl auch die anderer EU-Seestaaten, behauptete er, könnten in diesem Fall Fähren zwischen England und Frankreich blockieren. Inwiefern all dies nur Gestenpolitik an die eigenen verhärteten Seiten gewesen sein könnte, weiß niemand.
Bei den Verhandlungen ging es seit jeher vor allen um drei offene Punkte: dem Festlegen von Richtlinien für den fairen Wettbewerb zwischen beiden Seiten, darunter Fragen über Mindeststandards und mögliche unfaire staatliche Subventionen, der Frage, wie viel Zugang Großbritannien der EU-Fischerei gestatten soll, und, drittens, wer und wie die Beziehungen der beiden Zonen verwalten soll, darunter vor allen die Frage, welche Instanz oder welches Gremium über potenzielle Handels-und Vertragsbrüche entscheiden soll. Kleinere Themen standen ebenfalls offen, etwa, in welcher Form sich das Vereinigte Königreich am akademischen EU-Austauschprogramm Erasmus beteiligen würde. Großbritannien geht es bei allem in erster Linie um die Anerkennung britischer Souveränität. Ein System, in dem das Land immer den Gesetzten und Richtlinien der EU folgen müsste, ohne Entscheidungskraft darüber zu haben, würde die Regierung als sinnlosen Austritt aus der EU verstehen.
Am Anfang der Woche erklärten schließlich sowohl Ursula von der Leyen und EU-Chefverhändler Michel Barnier, dass beide Seiten einen Plan für den fairen Wettbewerb ausgearbeitet hätten. Schon davor war klar, dass bestehende Standards im Arbeits-, Umwelt- und Industriebereich beidseitig auf alle Fälle nicht gesenkt werden würden. Teil neuer Entwicklungen war jedoch, dass die EU Beschwerden nicht mehr als einseitigen Prozess verstehen würde, sondern auch dem Vereinigten Königreich das Recht eingestehe, gegen die EU klagen zu können, und, falls notwendig, Strafzölle zu erheben. Obwohl beide Seiten sich verbal äußerst vorsichtig ausdrückten, und die Hoffnung auf einen „Deal“ ungewiss hielten, sprach von der Leyen immerhin von einem existierenden, jedoch schmalen, Pfad zu einem Übereinkommen.
Noch gibt es nur Meldungen aus der Gerüchteküche, wo genau Kompromisse liegen könnten. Sollte es zu einer Einigung nach neun Monaten der Anspannung, ja nach vier Jahren seit dem Brexit-Referendum kommen, wäre es wohl für beide Seiten ein passendes Amen zum weihnachtlichen „Singen und Tanzen.“