Sommerloch

Saison der bellenden Löwen

d'Lëtzebuerger Land vom 23.08.2013

Heute loben wir das aufklärerische Potenzial des Sommerlochs. Diese Zeit der allgemeinen Flaute ist geradezu ein Nährboden für ungeahnte oder verdrängte Skandale. Das Sommerloch schärft unseren Blick für die verborgene Sauerei. Zum Beispiel diese: Eine chinesische Frau verriet der Zeitung Beijing Youth Daily ein zutiefst bestürzendes Vorkommnis. Sie habe mit ihrem Sohn den Zoo in der Stadt Luohe besucht. Plötzlich habe das Tier im Löwenkäfig angefangen zu bellen. „Das kann ich mir nur als Versuch erklären, die Zoobesucher zu täuschen“, empörte sich die Frau. In der Tat sollte sich herausstellen, dass im Zoogehege eine Dogge die Löwenarbeit verrichtete, ein so genannter Tibet Mastiff.

Nun ist die Aufregung groß. Wenn man schon den Löwen im Zoo nicht mehr trauen kann, wie soll man dann generell herausfinden, was echt ist und wahr, und was nur dem schönen Schein zuzuordnen wäre? Interessant ist, dass bei solchen Geschichten immer ein Moment der Selbsttäuschung mitspielt. Wir akzeptieren die Dogge als Löwen, solange sie nicht bellt. Und das Pferdefleisch in der Lasagne, solange nicht ein verschlagener Whistleblower die Bühne betritt.

Die meisten Pressekommentatoren werteten die chinesische Zooposse als unfassbaren Angriff auf Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe. Diese verdammten Chinesen! Sie tricksen und bluffen, sie überschwemmen den Markt mit billigen Imitationen, sie drücken uns aufs Auge, wo sie nur können! Sogar vor den unschuldigen Tieren haben sie nicht den geringsten Respekt! Bei solchen Bewertungen staunt der Laie, und der Fachmann ist ratlos. Die Fake-Begabung soll eine exklusiv chinesische Untugend sein? Und wir im heiligen Westen? Was hat der chinesische Zoobesitzer denn verbrochen? Er hat einen momentanen Engpass überwunden, indem er sozusagen „unqualifiziertes Personal“ einsetzte. Na und? Diese Praxis ist zum Beispiel im Luxemburger Unterrichtswesen die Regel. Da stehen Unmengen von falschen Löwen vor den Klassen. Und viele können noch nicht einmal korrekt bellen.

Unser ungeteiltes Mitgefühl gilt übrigens dem Hund, der dazu verdonnert wurde, als Löwenersatz aufzutreten. Wenn wir schon unsere kritischen Energien unter Beweis stellen möchten, müssen wir klar und deutlich sagen: Hier haben wir es mit einem krassen Fall von Tiermisshandlung zu tun. Nicht etwa, weil dem Hund seine angestammte Rolle verwehrt wurde. Sondern, weil man das Tier in Kerkerhaft nahm. Ein Zoo ist nichts anderes als ein Gefängnis. Die Gefangenen haben keinerlei Rechte, ihre Einlieferung wird per Federstrich besiegelt, juristische Prozeduren sind von vorneherein ausgeschlossen. Wenn also Zoobesucher sich aufregen, dass bestimmte Gefangene sich nicht so aufführen, wie man es nach Zahlung des Eintrittspreises erwarten dürfte, sagen sie im Grunde nur: Diese Strafanstalt wird nicht streng genug geführt. Die Sträflinge sollten sich bitte daran halten, dass wir ihnen nicht die geringsten Freiheiten zugestehen. Vor allem nicht die Freiheit des kreativen Rollentauschs. Oder der fröhlichen Mimikry.

Es könnte ja sein, dass der Löwenhund (oder Hundlöwe) aus seiner misslichen Lage einfach nur das Beste machen wollte. Dass Tiere hochintelligent sind, vergessen wir leider allzu schnell. In der Zoo-Rangordnung ist der Löwe immerhin die Diva, der Hund wird fast immer als Nobody geführt. Vielleicht handelt es sich ja nur um einen romantischen Traum des Hundes: einmal im Leben ein Löwe sein, einmal im Leben als bewunderter Promi erscheinen. Das ist immerhin ein legitimer Wunsch. Hier im heiligen Westen kippen mittlerweile ganze Gesellschaftsordnungen in den Wahn, Identitäten zu beschönigen oder gar komplett zu erfinden. Wir reden zum Beispiel von den unzähligen Plagiatoren, die im realen Leben als Doktoren ihr Unwesen treiben. Oder von den Politikern, die als einzigen Befähigungsnachweis ihre völlige Unkenntnis und ihre bombastische Ahnungslosigkeit ins Feld führen. Oder von der Finanzindustrie, die den systematischen Betrug buchstäblich zur Geschäftsgrundlage erhoben hat. Im Vergleich zu diesen schweren Fällen von Hochstapelei und Gesetzesbruch ist der Löwenauftritt der tibetischen Mastiff-Dogge nichts weiter als eine putzige Kabarettnummer.

Man könnte die Geschichte ja so interpretieren: Die tibetische Mastiff-Dogge soll die teuerste Hundegattung der Welt sein. Im Raubtierkapitalismus gilt: Wer einen hohen Marktwert hat, darf sich viel erlauben. Dieses Prinzip haben sich nahezu alle führenden Wirtschaftsunternehmen zu eigen gemacht. Mit seinem harmlosen Löwenspiel hat uns der Hund also nur vorgeführt, wie die globalisierte Ökonomie funktioniert. Statt sich über den sehr weisen Hund zu beschweren, der ja praktisch als Comedian die tatsächlichen Verhältnisse karikierte, täte die chinesische Zoobesucherin also besser daran, aus der schönen Parabel die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie hätte unfassbar viel zu fluchen. Nicht nur in ihrer Heimat. Und ihr kluger Sohn würde plötzlich an allen Ecken und Enden ein verräterisches Gebell hören.

Guy Rewenig
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