Ehe sich am 11. Juli der Srebrenica-Genozid in Bosnien-Herzegowina zum dreißigsten Mal jährt, bemüht eine symbolische UN-Resolution sich darum, das Datum zum internationalen Gedenktag an Srebrenica zu erklären. Doch eine Handvoll pro-separatistischer serbischer Extremisten und Staatsoberhäupter leugnet den Genozid. Die Herausforderung, sich auch drei Jahrzehnte später der Vergangenheit zu stellen, wird dadurch verschärft.
Srebrenica wurde zu Beginn des Bosnienkrieges von den Vereinten Nationen als „Sicherheitszone“ ausgewiesen, da die Mehrzahl der Bewohner eine Enklave von 60 000 bosnischen Muslimen in einem von Serben dominierten Gebiet bildete. Z ihrem Schutz wurden UN-Friedenstruppen eingesetzt, trotzdem wurde die Stadt am 11. Juli 1995 von serbischen Truppen belagert und überrannt, was internationales Recht verletzte. Etwa 8 000 muslimische Männer und Jungen, größtenteils unbewaffnet, wurden von der serbischen Armee massakriert. Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen wurden als Kriegstaktik eingesetzt, Zivilisten wurden beim Fluchtversuch hingerichtet. Ihre Überreste wurden später in Massengräbern gefunden – ein düsteres Zeugnis der begangenen Gräueltaten.
Seit dem Beginn der genozidalen Taktiken und Massaker im Jahr 1992 ist die Leugnung des Völkermordes in Bosnien fester Bestandteil der serbischen und pro-separatistischen Narrative. Der Völkermord an bosnischen Muslimen wurde bereits 2004 und 2007 durch zwei UN-Gerichtsurteile bestätigt und international als historische Tatsache anerkannt. Jedoch lehnen sowohl die von Milorad Dodik geführte Regierung der Bosnisch-Serbischen Republik, Republika Srpska (RS), als auch die von Aleksandar Vučić geführte Regierung Serbiens sie weiterhin vehement ab. Die RS ist eine der zwei politischen Einheiten innerhalb Bosnien-Herzegowinas, dort dominiert die serbische Bevölkerung. Serbien ist ein eigenständiger souveräner Staat und grenzt an Bosnien. Die gemeinsame Haltung bei der Leugnung des Völkermords macht Serbien und die RS zu engen Verbündeten.
Die UN-Resolution wird von Deutschland und Ruanda getragen, zwei Akteuren mit tiefgreifenden historischen Erfahrungen in Verbindung mit Genozid. Die Resolution dient als symbolische Erinnerung an die Opfer. Sie würde völlig im Einklang mit den offiziellen internationalen Gedenktagen stehen, die von der UN-Vollversammlung für den Holocaust (27. Januar) und den Völkermord in Ruanda 1994 (7. April) festgelegt wurden. Weder fordert sie Wiedergutmachung von den Tätern, noch kündigt sie Strafmaßnahmen an.
Trotzdem löste der Resolutionsvorschlag im vergangenen Monat eine Welle von Protesten aus, an denen sich Tausende Serben in Banja Luka, der Hauptstadt der RS, beteiligten. Präsident Dodik ging sogar so weit zu behaupten, dass „Bosnien und Herzegowina möglicherweise nicht überleben“ könne, sollte die Resolution verabschiedet werden. Diese drohende Aussage unterstreicht Dodiks langjährige Ambitionen, die Unabhängigkeit für die RS anzustreben, was schlimmstenfalls zu einem neuen Konflikt führen könnte.
Dodiks Drohungen, das Land zu spalten, sind Teil eines populistischen Musters, das er in den letzten 15 Jahren etabliert hat. Sie sind so häufig geworden, dass sie oft als leere Rhetorik abgetan werden. Die zeitliche Abstimmung seiner jüngsten Drohung aber ist von besonderer Bedeutung, wenn man die Zahl der Menschen berücksichtigt, die vergangenen Monat mobilisiert wurden, um an Genozid-leugnenden Protesten teilzunehmen.
Während Dodiks Handlungen innerhalb von Bosnien-Herzegowina zur Krise beitragen, wird diese durch die externe Einflussnahme der Vučić- Regierung, Dodiks symbiotischem Verbündetem, verstärkt und verlängert. Das hemmt nicht nur den Fortschritt in Richtung euro-atlantischer Integration, sondern verlängert auch das Leiden aller Bürger, unabhängig von ihrer Ethnizität oder Zugehörigkeit.
Wie erwartet, erklärte Präsident Vučić kürzlich auch Serbiens Opposition gegen die UN-Resolution. Nun wird vermutet, dass Vučić seine strategische Partnerschaft mit Russland nutzt, um die UN-Resolution durch koordiniertes Lobbying zu blockieren. Russland kann das im UN-Sicherheitsrat tun, wie bereits in der Vergangenheit. 2015 legte Russland sein Veto gegen einen ähnlichen Resolutionsvorschlag ein und äußerte Bedenken wegen anti-serbischer Rhetorik: Die Rolle bosnischer Serben bei den Kriegsverbrechen werde unfair hervorgehoben. Russland ist bemüht, seine Interessen sowie die Serbiens in der Region zu schützen. Die Versöhnung in Bosnien-Herzegowina wird dadurch schwieriger.
Das Amt des Hohen Repräsentanten, ein internationales Gremium zur Überwachung des Dayton-Friedensabkommens in Bosnien, erließ 2021 ein Gesetz, das die Leugnung des Völkermords bestraft. Dennoch hat das Parlament der Republika Srpska einen Bericht verabschiedet, der bestreitet, dass die Tötungen in Srebrenica Völkermord waren. Das alternative Narrativ stellt sie als „riesigen Fehler“ und als „Verbrechen“ dar, betont jedoch, es sei „kein Völkermord“ gewesen, wie Dodik unlängst erklärt hat. Das wirft die Frage auf: Ist die Schuld an der Leugnung des Völkermords einzelnen Personen zuzuschreiben, oder liegt es an der verfassungsrechtlichen Unfähigkeit Bosniens, diese Personen strafrechtlich zu verfolgen?
Das ursprünglich als temporär geplante Dayton-Abkommen von 1995 sollte dazu dienen, den Konflikt und das Blutvergießen in Bosnien zu beenden. Ein Vierteljahrhundert nach seiner Unterzeichnung wurde jedoch kaum Fortschritt bei der Etablierung einer politischen Struktur Bosniens erzielt, die dessen multiethnische Identität widerspiegelt. So wurde das Dayton-Abkommen de facto zur Verfassung Bosniens. Und alle Versuche, Teile des Abkommens zu verbessern, rufen Ängste vor einer Wiederbelebung schlummernder Spannungen und vor neuen Konflikten hervor.
Bestimmte politische Führer nutzen Schlupflöcher im Abkommen geschickt aus, um ihre Macht zu festigen und zu erweitern. Ein Beispiel dafür ist Dodiks Reaktion auf die Entscheidung des Amts des Hohen Repräsentanten, die Leugnung des Völkermordes zu bestrafen. Dodik initiierte daraufhin eine politische Blockade der staatlichen Institutionen, was eine der tiefsten politischen Krisen in Bosnien seit dem Krieg im Juli 2021 verursachte.
Dodiks Eifer, mit Drohungen Diskussionen über den Völkermord zu unterdrücken, verbirgt ein weiteres Problem: die zunehmende Unfähigkeit und Unwilligkeit der Republika Srpska, das Leben der bosnischen Gesellschaft zu verbessern. Grundlegende Probleme, wie der sogenannte „brain drain“, hohe Arbeitslosenraten und institutionelle Korruption, bleiben einfach ungelöst. Diese Vernachlässigung des Wohlergehens der Bürger untergräbt das Potenzial für Fortschritt und perpetuiert den Zyklus der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Solange Dodik seine eigene Agenda über die Bedürfnisse der Menschen stellt, bleiben sinnvolle Verbesserungen in Bosnien unerreichbar.
Es ist wichtig zu erkennen, dass die Stimmen, die den Völkermord in Bosnien-Herzegowina leugnen oder herunterspielen, nicht die Mehrheit in der bosnisch-serbischen oder serbischen Bevölkerung widerspiegeln. Vielmehr handelt es sich um eine von Dodik und Vučić geleitete Minderheitsfraktion, die in der Region erhebliche Macht und Einfluss hat. Und es gibt bosnisch-serbische und serbische Bewegungen und Organisationen, die aktiv daran arbeiten, dieses Narrativ zu bekämpfen. Die Youth Initiative for Human Rights aus Serbien zum Beispiel hat kürzlich in einem Brief an den Präsidenten der UN-Vollversammlung ihre Unterstützung für die Srebrenica-Resolution zum Ausdruck gebracht. Sie hat ausdrücklich ihre Ablehnung zur Haltung von Präsident Vučić zu diesem Thema erklärt und ist damit eine dissidente Stimme innerhalb der serbischen Gesellschaft, die nach Dialog, Versöhnung und Gerechtigkeit sucht.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Bürgerinnen und Bürger aller Ethnien von Bosnien-Herzegowina während des Krieges von 1992 bis 1995 gelitten haben. Die Anerkennung vergangener Gräueltaten ist entscheidend für die Heilung und das Vorankommen einer Gesellschaft. So schmerzhaft das auch sein mag, ist es Teil des kollektiven Engagements, um sicherzustellen, dass solche Kriegsverbrechen nie wieder passieren. Es geht nicht nur darum, Dinge beim Namen zu nennen. Sondern auch darum, sich auf eine Zukunft vorzubereiten, die auf Versöhnung und Akzeptanz vergangener Fehler aufbaut. Wie Bono von U2 bei seinem Konzert in Sarajevo 1997 der Menge zugerufen hat: „F*** the past, kiss the future!“ Obwohl die Anerkennung des Völkermords den Schmerz für betroffene Familien, realistisch betrachtet, kaum lindern wird, hat sie das Potenzial, die Zukunft Bosniens zu gestalten. Für die bosnische Jugend, gefangen in einem gelähmten und ethnisch gespaltenen Land inmitten latenter Spannungen, ist die Anerkennung des Völkermords entscheidend. Sie bietet ihnen die Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, Empathie aufzubauen und auf eine gerechtere und friedlichere Zukunft hinzuarbeiten.