ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Ländliche Idylle

d'Lëtzebuerger Land du 19.08.2022

Die vorgezogenen Kammerwahlen nach dem Sturz Jean-Claude Junckers 2013 verwirrten die Parteiapparate. Seither basteln sie am Wahlgesetz herum, um die nächsten Kammer- und Gemeindewahlen vorzubereiten. Gerade beschloss das Parlament, die Größe der Gemeinderäte auf der Grundlage des nationalen Personenverzeichnisses festzulegen.

Bei Gemeindewahlen ist das Wahlsystem nicht für alle gleich. Es hängt von der Einwohnerzahl ab. In Gemeinden mit weniger als 3 000 Einwohnern dürfen statt Parteien und Bürgerinnenlisten nur Einzelpersonen kandidieren: Bei den Gemeindewahlen 2017 wählten 53 Gemeinden nach dem Majorzsystem. Davon dürfte ein halbes Dutzend nächstes Jahr nach dem Proporzsystem wählen – dank Bevölkerungswachstum und Gemeindefusionen.

Konservative Stimmen fordern neuerdings wieder mehr Majorz. Kurz bevor er einem Putsch zum Opfer fiel, hatte CSV-Präsident Frank Engel ein Wahlprogramm Mir, d’CSV. Mir zu Lëtzebuerg verfasst. Er verlangte, „datt a Gemenge méi laang ka nom Majorzsystem gewielt ginn. Parteilëschte maachen haut a Gemenge vun 3 000 Awunner kee Sënn méi“.

Der ehemalige Bürmeringer Bürgermeister André Vandendries reichte im Juni beim Parlament eine Unterschriftensammlung ein für „d’Eropsetze vun der Zuel vun den Awunner bei der Berechnung vum Majorz- respektiv vum Proporzsystem vun 3 000 op 15 000“. Sie kam nicht über 313 Unterschriften hinaus.

Das Majorzsystem ist ein versteinerter Rest des Obrigkeitsstaats aus dem 19. Jahrhundert. Damals leisteten sich die besitzenden Klassen ein zweistufiges Majorzsystem. Damit selbst durch den Wahlzensus berechtigte Wähler keine Stimme gegen die herrschenden Verhältnisse abgeben konnten.

„Le système majoritaire qui exclut la majorité moins un des suffrages, est incompatible avec la vraie démocratie et contraire à l’égalité des citoyens qui doivent tous être représentés.“ So die Zentralsektion des Parlaments 1919 zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts. „Le suffrage universel sans représentation proportionnelle est un leurre.“

Das Majorzsystem hat in der Hälfte der Gemeinden (und bei Ausschusswahlen) überlebt. Wo es nicht beibehalten wurde, wurde es durch das Panaschieren ersetzt. Das Panaschieren lässt den Geist des Majorzsystems im Proporzsystem weiterleben.

Bei der Wahlrechtsreform von 2003 wurden die Sektionen und Stichwahlen in den Majorzgemeinden abgeschafft. Das System selbst wurde beibehalten. Auch bei allen weiteren Gesetzesänderungen.

Statt über politische Standpunkte wird im Majorzsystem über Personen abgestimmt. Es verhindert die solidarische Willensbildung und Kandidatur von politisch Gleichgesinnten. Von Interessengruppen, Bürgerinnenlisten, Parteien. Es verhindert die anteilige Vertretung politischer Minderheiten.

Das Majorzsystem beschränkt Lokalpolitik auf eine administrative Beschäftigung. Es fördert Gemeindemütter und Gemeindeväter, denen der Zweck ihres Tuns fremd bleibt. Die keine Politik machen wollen: fleißige, geltungsbedürftige Beamte, Hausfrauen, Rentner, Vereinsmenschen. Sie wollen einer Allgemeinheit mit Verkehrsampeln, Spielplätzen und Mülltrennung dienen. Oder in ihrer Partei eine landespolitische Laufbahn anmelden.

Heute sichert das Majorzsystem nicht mehr das politische Monopol der Großgrundbesitzer und Fabrikherren. Es bleibt die Playmobil-Version von Parlamentarismus: Demokratie ist für Erwachsene, nichts für kleine Gemeinden. Es kanalisiert nicht widersprüchliche Interessen gesellschaftlicher Klassen, wie das Proporzsystem. Es kaschiert sie hinter einer ländlichen Idylle von Villes et villages fleuris.

Auguste Lieschs genügsame Feldmaus Ketti wählt im Bürmeringer Dorf nach dem Mehrheitswahlrecht, ihre eitle Kusine Mim in der verruchten Stadt nach dem Verhältniswahlrecht. Das Majorzsystem schützt unschuldige Landgemeinden vor der moralischen Verderbtheit der Parteipolitik, loben Parteipolitiker.

Romain Hilgert
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