Die kleine Zeitzeugin

Un petit souvenir fait toujours plaisir!

d'Lëtzebuerger Land vom 31.08.2018

Ich weiß nicht mehr, wann genau es anfing, wahrscheinlich als ich begann, mich als reife Dame zu bezeichnen. Als ich dieses Symptom zum ersten Mal bei mir wahrnahm. Eine Verhaltensauffälligkeit, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Zumindest nicht bei mir.

Nämlich dass ich auf einer Reise, so mikroskopisch die zurückgelegte Route auch gewesen sein mag, vor einem Schaufenster stehen bleibe und ins Träumen gerate. Dann traumwandlerisch hineinwandele, um zwischen Trollen, Monstermuscheln und Sultanen aus China herumzutappen. Inmitten von in Plastik gegossenen Sonnenuntergängen und grotesken Grotten. Schwülstige Geschwülste umwuchern mich, Farben schreien mich an. Dann schneit es in Schneekugeln, alles ist gut. Es schneit auf die Luxemburger Sparkasse aus China. Der präpotente rote Löwe reißt sein Maul auf – der kommt Heimattouristin aber nicht in die Tüte, es gibt noch Tabus.

Wovon bin ich überhaupt befallen? Es ist noch nicht lange her, höchstens ein paar Dekaden, da wandelte ich todesverächtlich vorbei an so genannten Andenken, die sich gegenseitig an Scheußlichkeit übertrumpften, dessen war ich mir sicher. Vielleicht hatte ich noch Prinzipien, Ideale? Vielleicht war es ein Klassendünkel, von dem ich nicht einmal etwas ahnte? Der venezianischen Gondel, damals dem Inbegriff von Kitsch, begegnete ich im Wohnzimmer der Schwiegermutter, mit den Jahren glänzte sie immer lebendiger. Sie gehörte zu dem von Kindern und Enkelkindern aus dem Urlaub angeschleppten Sammelsurium, das, von einer geheimen Poesie belebt, vermutlich der Poesie der Liebe, die Wohnung der Großeltern in eine Schatzkammer verwandelte. Die Kinder erkannten das, sie fühlten sich wesentlich wohler im Kuschelkitsch als in schickem Purismus.

Doch junge Heldinnen urteilen streng, wie bitte sollte ich mir eine Erinnerung kaufen?

Jetzt kaufe ich mir Tassen mit Motiven, gegen Fernweh nehme ich einen Schluck Kaffee aus einem Napf mit dem Hradschin oder dem Bosporus drauf. Die Badetücher schmecken nach allen möglichen Meeren, ich liege auf ausgestorbenen Vögeln einer Insel im Indischen Ozean. Auf ihnen fliege ich gleich ganz anders.

Zur gleichen Zeit, es galt noch nicht als schick, als retro, fing es an, dass ich Ansichtskarten schickte.

Wenn ich eine bekam, was immer seltener geschah, freute ich mich wie über Flaschenpost. Ich klemme Kamelbuckel, Bergkuppen, diverse Wahrzeichen an die Fenster des Küchenschranks. Wie einst Großmutter selig das tat, mit den Sonnenuntergängen aus dem Midi, mit dem sie ihre Nachkommen jährlich pflichtgetreu versorgte. Nur habe ich keine Nachbarin Ketty, die ich damit beeindrucken kann.

Ansichtskarten, wer schickte noch so was? Nur noch Leute mit falschen Vornamen oder dem falschen Alter, also Alte. Meist mit einem Gruß versehen, der nicht vor Originalität sprühte. So etwas war früher ein Must, aber dann landeten die blutig roten Sonnenuntergänge aus Capri, der schöne Bonjour aus dem schönen Schwarzwald auf dem Must-Haufen der Geschichte, die Musts von heute sind anderer Art. Goodbye, Installation eines kleinen Mädchens, steif auf einem Campingstuhl in Schönschrift, mit Lineal, schöne Grüße an Paten- und andere Tanten, aber auch an die Peer Group verfassend, an andere kleine Mädchen, die genau so verbissen beflissen in Schönschrift, mit Lineal, das gleiche Bien le Bonjour auf eine Karte malen, mit den gleichen Palmen.

Ich schreibe also wieder Ansichtskarten. Der Moment muss aber der richtige sein. Zum Beispiel ein Nachmittag neben einer kleinen Kirche in einer kleinen Stadt, die Stadt glüht und alles ist am Strand außer mir und dem lokalen Philosophen aus Bronze, und dann gibt es noch einen Kaffee, oder einen Wein, und Tinte aus China und einen Gänsefederkiel, mit dem ich mich am Kopf kratze, auf die Eingebung wartend. Weil es soll schon was Erlesenes und zugleich auch Persönliches auf die Karte, die es seltsamerweise immer noch gibt, sogar mit Sonnenuntergang, der ist unsterblich. Und dann brauche ich noch eine Briefmarke. Und einen Briefkasten.

Das ist alles sehr herausfordernd.

Ich schreibe wieder Ansichtskarten.

Also eigentlich. Im Prinzip. Theoretisch.

Michèle Thoma
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