Die kleine Zeitzeugin

Älter ist jünger als alt

d'Lëtzebuerger Land vom 27.07.2018

Es ist komisch, die Türen sind plötzlich so schwer. Und die Treppen so steil. Der Weg zur Toilette ist ein Tagesausflug, war der nicht mal kürzer? Seltsam, seltsam, alles so hoch, so schwer, so mühselig, verhext wie in einem bösen Märchen, seit wann braucht Mensch Bärinnenkräfte, um eine Pfanne auf den Herd zu hieven? Alles plötzlich so überdimensional. Alice im Wunderland. Das geht nicht mit rechten Dingen zu, die Dinge sind komisch geworden, die Menschen sowieso. Barrierefrei, sagen sie, aber seit wann ist alles voller Barrieren? Das ganze Leben ein einziger Hindernislauf, naja, Lauf, man krabbelt sich so durch. Wer eine Mineralwasserflasche öffnen kann, muss ein Herkules sein.

Komisch, die Menschen reden so undeutlich, sie murmeln nur so vor sich hin. Vortragende nuscheln in sich hinein, seit wann haben die Menschen das Sprechen verlernt? Laut und deutlich!, möchte man ihnen zuschreien, hören tun sie wahrscheinlich auch nicht, wie in der Schule. Und die Farben sind so matt, alles verschleiert, es wird zunehmend schleierhaft das Ganze, wer soll da noch durchblicken? Die Natur hat null Fantasie mehr, Vögel zwitschern nicht mehr, wo sind sie überhaupt?

Aber besser das nicht erwähnen, irgendjemand zeigt einem sicher gleich einen Vogel, bei dem piepst es sowieso, viele wollen einen nur aufziehen. Oder sie kriegen so einen idiotisch besorgten Blick.

Auch die Zeit, auch die spielt einer mit, auch die. Alles ist ja mittlerweile gegen einen. Stellt sich einem in den Weg oder ist plötzlich weg. Die Zeit ist unheimlich lang, man kriegt sie nicht mal tot geschlagen. Dann wiederum rennt sie davon, schon wieder ist Geburtstag, was, meiner? Der wievielte? Und schon ist wieder einer tot, eben lebte er doch noch. Welch ein Durcheinander.

Komisch, wie viele Körperbestandteile einer hat, immer fällt dem Körper ein neuer ein. Ein nie gehörter. Oder ein altvertrauter, plötzlich wird er alt genannt. Alt eben. Sagt der Arzt. Er ist jung. Also jünger. Also jünger als der alte. Der von vorher. Der kannte sich aus mit den Körperbestandteilen, die plötzlich angeblich alt sind, dabei hat der junge Arzt aber gelächelt, vielleicht war es nur ein Scherz. Das Knie sei eben schon alt, hat der Arzt gesagt. Nein, älter. Älter ist besser als alt. Älter ist weniger alt als alt, es ist alt light. Unlogisch, weil es doch eine Steigerungsform ist. Aber nach alt gibt es nur tot.

Die Weltgesundheitsorganisation sagt, nein, nach alt gibt es noch hochbetagt und langlebig. Also zäh. Da muss man aber wirklich zäh sein, wenn man mutterseelenallein ist mit den Pfannen und den Türen und den Treppenstufen, die einem über den Kopf wachsen. Und den Mineralwasserflaschen. Nicht zu verdursten ist schon eine Leistung. Und wenn die Friseurin weg ist, die die Frisur konnte, und das Café an der Ecke weg ist, es war nicht besonders, aber es war da. Und wenn die guten Filme nicht mehr kommen und die guten Fernsehansager auch nicht. Und alles so totenstill ist, lebt man noch oder nicht, wie soll man das herausfinden? Wen soll man da fragen?

Aber draußen gibt es anscheinend noch andere. Wie in einem Film. Wenn man zum Fenster raus schaut oder raus geht, dann ist alles plötzlich voll. Viel zu voll. Viel zu laut. Viel zu viele. Und alle sind so unheimlich jung, überall sind sie so jung, diese Jungen haben eigenartige Themen, in was für einer Sprache reden die eigentlich? Und worüber? Das sagt einem gar nichts mehr.

Alles wird immer kindischer, überall Kinder. Kinder machen Kunst, und Kinder machen Politik, wenn man Trump sieht, denkt man: dummer Junge. Wo sind eigentlich die Erwachsenen?

Und wo sind die Alten? Unterwegs zum Klo? Oder wo? Es wird ein bisschen unheimlich, allmählich.

Lauter alte Leute hier. Ich hätte es mir denken können, ich habe es mir ja gedacht. Was mache ich eigentlich hier? Es wird alles immer komischer.

Michèle Thoma
© 2024 d’Lëtzebuerger Land