Claude Gengler
Thilo Sarrazin hat wieder zugeschlagen. Dieses Mal geht es nicht darum, ob Deutschland sich abschafft, es geht nicht um Immigrations- und Integrationsfragen, die Angst vor Überfremdung, verschleierte Türkenmädchen, ungebildete, traditionsbesessene und gemüseverkaufende Väter. Es geht um Europa und um den Euro.
Der Titel seines Buchs Europa braucht den Euro nicht ist zumindest teilweise als Reaktion auf eine Aussage der Bundeskanzlerin zu verstehen, die lautet: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Einer dieser Sätze, über die man sich spontan vielleicht freut, dann aber ins Grübeln kommt, weil die Realität doch etwas verkürzt und vereinfacht wiedergegeben wird.
Die Euro-Väter hatten die endgültige Vereinigung eines großen Teils des europäischen Kontinents vor Augen. Allerdings war es naiv – vielleicht auch ein bisschen fahrlässig? – zu meinen, man könnte auf diesem Weg eine wirtschaftliche Gleichheit herbeiführen, die es in der gewünschten Form noch nie gegeben hat, die es eventuell auch nie geben wird. Einerseits wird immer wieder auf die Vielfalt und Verschiedenartigkeit Europas als eine seiner größten Stärken hingewiesen, andererseits wurde und wird politisch immer noch so getan, als ob wir es mit einem homogenen Raum, der gleichzeitig ein riesiger Wirtschaftsmarkt ist, zu tun hätten. Die Differenzen und Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten schienen auf einmal keine Rolle mehr zu spielen, frei nach dem Motto: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.
Und es kam noch schlimmer: Die als Notbremse und Sicherheitsnetz konzipierten Maastrichter Stabilitätskriterien wurden systematisch von (fast) allen Euro-Staaten missachtet, und alle haben zugeschaut. Sanktionen? Fehlanzeige! Man will sich ja nicht mit seinen Nachbarn, Freunden und… Wirtschaftspartnern anlegen. Das „On évite les sujets qui fâchent”-Prinzip kennen wir mittlerweile von zahlreichen Gipfeltreffen und -erklärungen. Es ist eben nicht so gelaufen, dass die Währungsunion die politische Union im Huckepackverfahren gleich mitgebracht hätte.
Geschmacklos und komplett daneben ist natürlich die Sarrazin-These, wonach Deutschlands Regierende Ja und Amen zu alledem gesagt hätten, um Schuldgefühle, bedingt durch die Barbareien des Zweiten Weltkriegs, zu bekämpfen. „Si tacuis[-]ses”, kann man da nur sagen.
Zurück zur Anfangsfrage: Braucht Europa Sarrazin? Die Antwort lautet „nein”, allerdings könnte der Name Sarrazin auch durch irgendeinen anderen Namen der über 500 Millio[-]nen EU-Bürger ersetzt werden. Was wir dagegen brauchen, in sämtlichen Mitgliedsstaaten, sind offene, ehrliche, transparente, kritisch-konstruktive Debatten, nicht nur über den Euro, sondern über alle Themen, die uns im Moment oder in absehbarer Zukunft in Atem halten (werden): Wirtschaftswachstum, Jugendarbeitslosigkeit, Armutsbekämpfung, Immigrationspolitik, Asylpolitik, EU-Außenpolitik undsoweiter.
Sarrazin ist kein „Mann mit Visio[-]nen”. Er ist von Zahlen und Statistiken besessen, ein Haarespalter und Erbsenzähler. Manchmal schießt er auch aus der Hüfte und nimmt es dann mit seinen Fakten und Korrelationen nicht so genau. Unsere Gesellschaft muss aber auch einen Sarrazin, inklusive Fangemeinde, aushalten können. Visionen sind gut und schön, aber Detailwissen über genaue Hintergründe, Folgeerscheinungen, Mehrkosten und Kollateralschäden ist auch wichtig. Das sehen und verstehen wir auch in Luxemburg, jeden Tag ein bisschen mehr.