Die Franzosen haben gewählt. Es haben recht viele gewählt, über 80 Prozent, ohne Wahlpflicht! Haben sie gut gewählt? Da gehen die Ansichten weit auseinander. Das Ergebnis geht jedenfalls nicht nur die Franzosen etwas an, auch wenn wir selbst nicht mitwählen. Entweder wir glauben an die europäische Idee, dann müssen wir auch weiterhin am Konzept einer europäischen Zivilgesellschaft feilen, oder wir lassen es, und dann kann es uns egal sein, wer, wo, wie, welches Land regiert. Es ist uns nicht egal. Es darf uns nicht egal sein.
Weil der Amtsinhaber nicht den ersten Platz gemacht hat und – mehr noch – weil die Kandidatin des Front National knapp 18 Prozent erreicht hat, ist von einer Wutwahl, Protestwahl, Frustwahl, Verliererwahl die Rede. Die Anhänger der extremen Rechten alle als Wutbürger, Protestler, Frustrierte und Loser zu bezeichnen bringt nichts und greift zu kurz. Sehr bedenklich ist natürlich, dass Marine Le Pen Unmengen an Arbeiterstimmen anzieht, besonders in den alten Industriegebieten, und dass ihr Diskurs auch bei jungen Menschen gut ankommt. Nicolas Sarkozy muss jetzt, möchte er noch einmal in den Elysée-Palast einziehen, noch viel mehr als bisher in der rechten Ecke wildern. Gleich am Sonntagabend hat er gesagt, wo’s lang gehen soll: Ich kenne und verstehe Eure Ängste und Leiden. Es geht um die Grenze, um Delokalisierungen, um Einwanderung, um Aufwertung der Arbeit und um Sicherheit. Das verheißt nichts Gutes.
A propos Grenzkontrollen. Wer ohne Not zwei Tage vor der Wahl dafür sorgt, dass ein Brief an die EU-Ratspräsidentschaft öffentlich wird, in dem Deutschland und Frankreich (oder umgekehrt) das Recht verlangen, selbst bestimmen zu können, wann und wie lange sie ihre Binnengrenzen wieder kontrollieren, sprich: zumachen können, handelt nicht nur antieuropäisch, sondern bös fahrlässig. Wer abends vor dem Schlafengehen seinen Kindern noch eine schöne Horrorgeschichte erzählt, muss sich nicht wundern, wenn die Nacht eher unruhig verläuft. Wer bei bereits verunsicherten und unter der Krise leidenden Bürgern Ängste schürt, erntet extreme Wählerstimmen. Einmal ist die EU als Ganzes schuld, dann ist es „nur“ die Kommission beziehungsweise. Brüssel, dann ist es der Euro, wenn es nicht die bösen Deutschen sind. So wird das aber nie etwas mit dem gemeinsamen Europa.
Ein Wort noch zum Abstimmungsverhalten unserer direkten Nachbarn. Lothringen leidet sehr unter der Krise. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, insbesondere bei jungen und älteren Menschen. Die Region fühlt sich verraten, verkauft, links (rechts?) liegengelassen. Vor zehn Jahren nahm Jean-Marie Le Pen nach dem ersten Wahlgang den ersten Platz ein. Diesmal erreichte die Tochter fast zehn Prozentpunkte mehr als ihr Vater vor fünf Jahren. In Luxemburg und anderswo wundert man sich darüber, dass man „in unserer Großregion“ extremistisches Gedankengut pflegt. Das ist ziemlich blauäugig. Nicht alle Bewohner einer Grenzregion erkennen die Vorzüge einer solchen, geschweige denn, dass sie davon profitieren. Den einen macht Europa Hoffnung, den anderen Angst. Mit Grenzüberschreitungen verhält es sich wie mit der Globalisierung: Es gibt Gewinner und es gibt Verlierer. Aufklärung, Pädagogie und eine ehrliche Politik sind hier gefragt. Die Bürger müssen mitgenommen werden, verstehen, was um sie herum passiert. Dieser Appell gilt nicht nur für die französischen Wähler und ihre Politiker. Er gilt auch für uns.