Ende August 2014 überkommt mich ein plötzliches Verlangen. Flugs packe ich ein Rucksäcklein, schnappe meinen Pass und begebe mich zum Busbahnhof, von dort fahren jede Menge Balkanbusse ab. Ich steige in den mit der Aufschrift „Sarajevo“, wundersamerweise gibt es noch ein paar freie Plätze, und bezahle märchenhaft analog beim Fahrer. Einst hießen diese Busse Gastarbeiterbusse, Gastabeiter/innen gibt es zumindest verbal nicht mehr, die meisten sind längst Wiener/innen und fahren nur zu Besuch in die Ex-Heimat. Quasi alle Fahrgäste sind solche Heimreisende, auch mit Kindern und jeder Menge Koffer und bauchigen Taschen. Bald ist alles schön voll, und um fünf geht es los. Nach Graz, dann über Slowenien nach Kroatien, draußen ducken sich in der Dunkelheit langgezogene Ortschaften.
Auf einer Autobahn machen wir eine Pause, Chauffeur und Beifahrer schenken Gratiskaffee aus einem Kanister aus, wir trinken und rauchen und wechseln Worte, so ein knisterndes Unterwegs-Feeling stellt sich ein. Über unseren Köpfen im Bus laufen geräuschvolle Filme in ex-jugoslawischen Sprachen, wobei es wenig Sprache gibt. Es wird vorwiegend gecatcht und geballert; die Filme scheinen nie zu enden, beziehungsweise sich sehr zu ähneln. Die Fahrgäste aber sind abgehärtet, das Geplauder ist allmählich versiegt und es wird schon tiefenentspannt geschnarcht. In der Stockfinsternis draußen nehme ich Umrisse von Ansiedlungen wahr, ärmliche Behausungen, es ist schon Bosnien. Die Gefechte über unseren Köpfen dauern an.
Morgengrauen, Endstation Sarajevo. Auf die meisten warten freundliche Autos, ich stehe auf dem Pflaster unter ebenfalls freundlichen Wolken und dem von Sonnengeblitz aufgerissenen Himmel und sauge die ersten Eindrücke auf. Die Hügelwellen mit Plattenbauten am Horizont, die bescheidene Skyline, eine stickigstaubige Milde in der Luft. Schon stehe ich auf dem leicht schrägen Platz, dem Gemeinplatz der Sarajevo-Fotos, vor dem berühmten türkischen Brunnen. Das Minarett einer Moschee spießt sich in den Himmel. Scharen von Tauben kommen angeflattert, Herden, eine Taubenwolke, sie lassen sich zu meinen Füßen nieder. Der schönste Willkommensgruß.
Rundherum ist es busy, Sarajevo s’éveille, es wird gefegt und mit Wasser gesprüht, auf den Terrassen werden die Stühle zurechtgerückt. Jetzt, kurz vor sechs, sitzen schon zwei alte Männer beim cava, die Kellnerin, eine robuste blonde Frau in meinem Alter, bringt mir auch einen. Woher ich komme? Ob ich allein reise? Ja. In ihren Augen ist Sehnsucht. Das würde ich auch gern tun, gehen, wohin man will, machen was man will. Einfach so. Ja. Das spärliche Kroatisch aus meinem Kurs, der nach dem Krieg nicht mehr Serbisch-Kroatisch-Kurs hieß, sondern nur noch Kroatischkurs und jetzt wieder BSK, Bosnisch-Serbisch-Kroatisch-Kurs, seine Bezeichnung variiert je nach politischer Opportunität, funktioniert. Sie gibt mir die Hand, ich bin Dragana, kommen Sie wieder! Ja. Um die Ecke gebe es ein Hotel.
Ein diskretes Mini-Hotel in einem weißgestrichenen Haus mitten im berühmten türkischen Viertel. Ich läute, ein junger bärtiger Mann öffnet. Ja, er hat noch Zimmer. Das Zimmer ist schmal und sauber und draußen wartet schon der nächste Kaffee. Aber bitte mit Milch! Der junge Mann schaut mich streng an, ja, ich weiß, No-Go beim türkischen Kaffee, sage ich. Das sei kein türkischer, sondern bosnischer Kaffee, rügt er milde und doziert dann umfassend über die äußerst subtilen Nuancen, die die Zubereitungsarten unterscheiden. Dann stellt er sich als Student vor, der gemeinsam mit seiner Freundin das Hotel führt.
Die türkische Altstadt scheint nicht groß, ein paar lebhafte Gassen voller Holzbüdchen, voll mit Silber und beschlagenem Leder und Teegläsern, ich kaufe mir Teelöffel mit Glitzersteinchen, die die Sonne fangen, am liebsten würde ich mir das Morgenland in den Rucksack stopfen. Ich trinke caj und schaue den Katzen zu, die über die aneinandergereihten Holzbüdchen flanieren.
Ich habe Glück, ich bin nach dem noch immer auf Plakaten präsenten Filmfestival hier, es gibt kaum Tourist/innen. Ich fahre mit der wie in einem übersichtlichen Kinderbuch einzigen Straßenbahnlinie von einem Ende der Stadt zum anderen. Ich stehe dort, wo der österreichische Thronfolger, dessen angeblich noch blutbeflecktes Auto Wiener Kinder ins Museum lockt, ermordet wurde. In die „Sniper Alley“ gehe ich nicht.
So viele Minirock-Frauen habe ich seit Jahrzehnten nicht gesehen! Und kaum Burkafrauen, jedenfalls viel weniger als in Wien. Und das in einer islamistischen Hochburg, wie die Sage geht.
So ein Fantasietibet-Feeling in der hölzernen Gasse mit den Holzhäuschen, den Holzveranden, die im aufsteigenden Hügel nisten. Ich keuche in der Vormittagshitze hoch, betrete einen Friedhof, viele Gräber aus den Neunzigern. Über der Stadt schaue ich von einem Aussichtslokal in den Talkessel, über die mit Grabsteinen gespickten Wiesen. Überall ist Friedhof. Die Gräber sind allgegenwärtig, auf eine beinahe selbstverständliche Art. Die Toten ruhen in Gärten und Vorgärten, unter einem Baum am Straßenrand, die Toten sind unter den Lebenden und bei den Lebenden. Sie sind nebenbei dabei. Sie drängen sich nicht auf.
Der Versuch, ein Glas Rotwein zum Abendessen auf einer der Altstadtterrassen zwischen den Teetrinkern und Shisha-Rauchern zu ergattern scheitert. Ein einziger Wirt, nach wenigen Tagen bin ich Lokal-Profi, schenkt crno vino, schwarzen, also roten Wein aus. Die verhaltensauffällige Rotweinbettlerin muss in die Ferhadija auswandern, ins Zentrum, dort findet sie Alk-Asyl und Cevapcici.
Wie komme ich nach Montenegro? Ins Land des Schwarzen Bergs, wie oft stand ich wie der Ochse vor dem schwarzen Berg, aus diesem oder jenem Grund oder gar keinem schaffte ich es nicht dahinter, allein schon wegen des Namens muss ich hin. Der Hotelchef checkt eine Mitfahrgelegenheit für mich im Morgengrauen ab Pale in der Republika Srpska. Es ist nah, ein Kumpel des Chefs bringt mich hin. Hier wurde Karadzic verhaftet, sagt er, deutet auf ein paar Häuser in diesem extrem banalen, unattraktiv wirkenden Luftkurort, lange das lang bekannte Versteck des Präsidenten der Serbischen Republik in Bosnien.
Ein schon voller Minibus wartet, wohin ich wolle, fragt der Fahrer. Montenegro, sage ich. Wohin in Montenegro? Keine Ahnung, ich bin ohne Landkarte und Smartphone unterwegs. Ich bin unschuldig unterwegs. Budva, sagt die Stimme hinter mir mir ein, fahren Sie nach Budva! Sie gehört zu einer älteren Frau, außer mir der einzige betagte Fahrgast. Okay, Budva.
Der Minibus hat einen Affenzahn drauf, wir fliegen durch desolate Siedlungen, vor den Häusern alte Männer auf Klappstühlen. Und dann in die Berge. Wie anders als der knochige kroatische Karst! Tief unten, inmitten verschwenderischen Gewuchergrüns, strudeln milchgrüne Bäche, milchgrüne Teiche schauen, die Schöpfung ist noch taufrisch. Eine abgrundtiefe Ruhe geht von all dem aus. Nur ich flippe.
Die Straßen haben sich in Wege verwandelt, bis auch die sich auflösen, der Bus ist aber so schnell, dass es egal ist, er hat die Bodenhaftung verloren, er fliegt über die Abgründe, neben uns ist Bodenlosigkeit. Hoffentlich sehe ich keine Busskelette, die wie kaputtes Spielzeug unten herumliegen. Den Fahrer scheint das nicht zu beeindrucken, wie eine indische Göttin multitaskt er vielhändig. In einer Hand die Zigarette, die andere auf dem Schenkel der jungen Frau neben ihm, in einer das Handy im Dauertalk, eine lässig am Steuer. Auch die Reisenden scheinen nicht beeindruckt, einige dösen, einer löst Kreuzworträtsel. Hin und wieder winkt jemand am Rand des Nicht-Weges und der Bus bremst und der oder die Neue steigt ein. Sie quetschen sich irgendwohin, einige stehen, es gibt keine Sitzplätze mehr.
Es ist Nachmittag, aus Bergen werden Hügel, aus Abwegen Wege und Straßen. Wir haben überlebt. Wir sind an der Grenze. Es ist plötzlich Schweiz. Schmucke, rotbedachte Einfamilienhäuser, glänzende Supermärkte. Überall blaue Schilder mit protzigen Europasternen. Weiter Richtung Hauptstadt. Wir pinkeln in Podgorica.
Budva!, sagt die Frau hinter mir, es ist die erste Haltestelle am Meer. Kaum setze ich den Fuß auf den Boden des Gelobten Landes, befällt mich Halsweh. Plötzlich und intensiv. Angina, meine treue Reisebegleiterin, beziehungsweise meine treue Reisephobie? Mitten in den Tourismusströmen radebreche ich mich zu einer ärztlichen Praxis durch. Die Ärztin schaut mich durchdringend an: Warum ich ihre Sprache so gut spreche? Weil ich in einem Kurs war. Die Ärztin schüttelt den Kopf, unmöglich, ich hätte sicher serbische Vorfahren. Im übrigen bräuchte ich Antibiotika und solle mich hinlegen, sie zieht eine Spritze auf. Spritze? Warum? Es wird Ihnen guttun. Was ist drin? Legen Sie sich hin! Nein! Sie ist beleidigt und schmeißt mir zum Abschied den serbischen Stammbaum an den Kopf.
Es ist schon dunkel, als ich endlich im Getöse, das mich umgibt, ein Hotel finde. Ein Zimmerchen im Hotel Oasis, sehr günstig, in Strandnähe. Diese Stadt scheint eine Riesendisco zu sein, die ganze Nacht tobt das Zimmer. Am Tag entdecke ich die Disco-Belegschaft: Männer mit imposanten Kreuzen auf pelziger Brust, gehbehindert vor lauter Muskulatur schleppen sie ebenfalls beeinträchtigte Wesen neben sich her. Die haben dermaßen viel Holz vor der Hütt’n und so schwindelerregende Absätze, dass jeder Schritt zur Herausforderung wird. Budva scheint bei Russ/innen extrem beliebt.
Die nächsten Tage laufe ich zwischen den Zinnen der obligaten schönen Burg auf und ab. Ich schwimme in einem Meer von einem kompakten, beinahe düsteren Blau, ganz anders als die irisierende Pastellfarbe, das Meeresaquarell der kroatischen Küste. Ich bettle erstaunlich baumlange Kellner um den Katzentisch auf der Terrasse an, nein, den Mäusetisch. Ich esse schwarzen Reis und trinke schwarzen Wein. Ich schaue mir die mürrischen Heiligen in der orthodoxen Kirche an. Nachts bebt das Bett, jede Nacht Disco, gratis.