Quasi im Alleingang hat die Regierung das Land vor Covid-19 gerettet. Für andere Dinge hatte sie bislang kaum Zeit. Auch für die Sozialpartner nicht. Die Unternehmerverbände stört das weniger als die Gewerkschaften

Auslaufmodell

d'Lëtzebuerger Land vom 08.10.2021

Demokratie Als 1966 der Wirtschafts- und Sozialrat als erstes „Tripartite“-Gremium ins Leben gerufen wurde, war eine seiner gesetzlich festgelegten Aufgaben, im ersten Trimester jeden Jahres einen Bericht über die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Entwicklung des Landes und ein Exposé zur Politik der Regierung zu erstellen. 1975 war es der liberale Staatsminister Gaston Thorn, der diese Übung auf Regierungsebene institutionalisierte und am 19. März seine erste Erklärung zur Lage der Nation in der Abgeordnetenkammer hielt. Ende 1976 führte die Koalition aus LSAP und DP eine neue Prozedur ein, die die Haushaltsdebatten „straffen“ und „ihren politischen Impakt erhöhen“ sollte. Die Rede zur Lage der Nation und ihre anschließende Diskussion im Parlament im Frühjahr sollten „eine prospektive Funktion erfüllen“ und „den Einfluß des Parlaments auf die Regierungspolitik“ verbessern und stärken, wie die damalige DP-Fraktionsvorsitzende Colette Flesch in einem Interview mit dem Land erläuterte (d’Land, 22.10.1976). Die Debatte sollte als Grundlage zur Erstellung des Staatsbudgets dienen und es der Exekutive und der Legislative gleichermaßen erlauben, in einer gelassenen und einträglichen Atmosphäre – ohne den Druck der erst sechs Monate später stattfindenden Budget-Abstimmung – über die aktuelle Lage des Landes und seine zukünftige Ausrichtung zu beraten, erklärte Thorn am 17. März 1977 zu Beginn seiner 90 Seiten langen Rede.

Die erste sozialliberale Koalition der Nachkriegszeit wurde kurz nach ihrem Amtsantritt im Juli 1974 von der Stahlkrise überrascht. Die Krisenbewältigung nahm in den ersten Jahren einen großen Teil der Regierungsarbeit ein. Für die im Koalitionsprogramm angekündigten tiefgreifenden Strukturreformen (Energieversorgung, Renten) blieb kaum Zeit, was den Oppositionsabgeordneten Jean Wolter von der CSV in der parlamentarischen Debatte über die Rede zur Lage der Nation von 1977 dazu veranlasste, die „bisherige Bilanz der LSAP-DP-Koalition“ zwei Jahre vor Ablauf der Legislaturperiode als „alles andere als zufriedenstellend“ zu bewerten.

Den gleichen Vorwurf wird sich die Koalition aus DP, LSAP und Grünen in der kommenden Woche von den Oppositionsparteien gefallen lassen müssen. Am Dienstag hält Premierminister Xavier Bettel (DP) seine Rede zur Lage der Nation vor den Abgeordneten, die wieder im Plenarsaal der Kammer auf dem Krautmarkt Platz nehmen werden. Seit 2019 findet die Ansprache nicht mehr im Frühjahr statt, sondern fällt zeitlich mit der Hinterlegung des Staatsbudgets zusammen, das Finanzminister Pierre Gramegna (DP) am Mittwoch präsentieren wird. Anschließend beginnen die Debatten zu Bettels Rede. Durch diese zeitliche Zusammenlegung wurde der ursprüngliche Zweck der Rede zur Lage der Nation als Grundlage für die Erstellung des Haushalts und als Instrument zur Stärkung der Demokratie aufgehoben.

Wahlkampf Die Oppositionspartei déi Lénk hat bereits am Dienstag auf einer Pressekonferenz vorgelegt. Ko-Parteisprecherin Carole Thoma unterstellte den drei Koalitionspartnern, kein gemeinsames Projekt mehr zu haben und schon im Wahlkampfmodus zu sein. Die große Steuerreform sei geplatzt, die Wohnungsnot werde immer gravierender, die Cannabis-Legalisierung drohe zu scheitern und die sozialen Ungleichheiten seien während der Coronakrise weiter gestiegen. In eine ähnliche Kerbe schlug am Donnerstag die ADR.

Um die sozialen Auswirkungen der Stahlkrise möglichst gering zu halten, schuf die Regierung Thorn-Vouel-Berg Mitte der 1970-er Jahre das Konjunkturkomitee Comité de coordination tripartite. Gemeinsam arbeiteten Sozialpartner und Regierung über Jahre hinweg solidarisch Maßnahmen und Ins-trumente aus, die trotz des massiven Stellenabbaus in der Stahlindustrie einen Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut verhinderten. Anders als damals hat die heutige Regierung sich in der Corona-Pandemie weitgehend alleine als Retterin in der Not inszeniert. Zwar wurden Gremien geschaffen, um die Sozialpartner und Menschenrechtsorganisationen zu informieren, und im Juli 2020 wurde in Senningen die erste Tripartite seit fast zehn Jahren abgehalten – ein einmaliges Treffen mit Alibi-Charakter, bei dem es vor allem um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ging –, nach außen waren es aber vor allem die Minister/innen Xavier Bettel und Paulette Lenert, und in etwas geringerem Maße Dan Kersch, Franz Fayot und Lex Delles, die als Krisenmanager/innen in Erscheinung traten. Die Gewerkschaften und auch die Unternehmerverbände blieben größtenteils außen vor; ihre Rolle war darauf reduziert, sich höflich bei der Regierung für die großzügigen Hilfen zu bedanken und sie für ihr Krisenmanagement zu loben.

Neben dem wirtschaftlichen Neustart nach Covid-19 muss Luxemburg sich aber noch weitreichenderen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen: Auswege aus der Wohnungsnot müssen gefunden werden, die Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele müssen von den Menschen akzeptiert und umgesetzt werden, und die Digitalisierung wird die Arbeitswelt maßgeblich verändern. Die Gewerkschaften wollen bei der politischen Gestaltung der strukturellen Transformation ein Wort mitreden. Seit Monaten fordern OGBL, LCGB und CGFP daher eine Fortsetzung der Tripartite.

Die Regierung sieht bislang dafür keine Notwendigkeit, entweder weil die Covid-Krise noch nicht vorbei ist, wie Xavier Bettel kürzlich vorschob, oder weil die wirtschaftliche und finanzielle Lage besser ist, als noch vor einem Jahr befürchtet wurde. Finanzminister Gramegna teilte am Samstag nach einer gemeinsamen Sitzung des Finanz- und des Haushaltskontrollausschusses mit, dass die Konjunktur wieder angezogen hat, die Einnahmen wieder steigen und die Ausgaben leicht zurückgehen. Das Defizit des Zentralstaats ist gegenüber 2020 gesunken, die Staatsverschuldung liegt zwar mit 25,9 Prozent des BIP deutlich höher als vor der Krise, bleibt aber unter der 30-Prozent-Marke, die die Regierung sich in ihrem Koalitionsabkommen als Obergrenze gesetzt hat. Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise vor zehn Jahren werden demnach wohl nicht nötig sein.

Reflexion Für Bettels Vorgänger Jean-Claude Juncker (CSV) war die Rede zur Lage der Nation stets eine willkommene Gelegenheit zur Selbstinszenierung und bisweilen auch zur Kasteiung. Für den DP-Premier ist sie inzwischen zu einer lästigen Pflichtübung geworden. Unerwartete Ankündigungen und ehrliche Reflexionen sind auch in diesem Jahr nicht zu erwarten. Einen erheblichen Teil seiner Ansprache wird der Staatsminister wieder dazu nutzen, um die Verdienste der Regierung in der Coronakrise in den Vordergrund zu stellen. Mit Verweis auf das neue Covid-Gesetz, das er nach dem Regierungsrat am heutigen Freitag vorstellt, wird er zur Vorsicht mahnen. Die Klimapolitik soll in der Rede ebenfalls nicht zu kurz kommen, heißt es aus Regierungskreisen. Daneben wolle Bettel auf andere Herausforderungen wie Wohnungsnot und Digitalisierung eingehen. Dem Koalitionspartner LSAP zuliebe wolle Bettel auch soziale Aspekte berücksichtigen. Nicht zuletzt wolle der Premierminister die politische Vision der Regierung für die nächsten 15 bis 20 Jahre präsentieren.

Die hohe Erwartungshaltung der Gewerkschaften wird Bettel enttäuschen müssen. Zwar wird das Kindergeld wieder an den Index gekoppelt, aber nicht erhöht. Das Gesetz zur 1975 erstmals per Verordnung eingeführten Kurzarbeit wird reformiert und das Recht auf Abschalten rechtlich geregelt, was Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) schon vor zwei Wochen verkündet hatte. Eine (weitere) Erhöhung des Mindestlohns und die im Regierungsabkommen vereinbarte arbeitsrechtliche Förderung der Tarifverträge - zwei Kernforderungen der Gewerkschaften - werden vordergründig wegen der noch unsicheren Finanzlage wohl nicht umsetzbar sein.

Die Forderungen der Fedil nach staatlichen Hilfen wie eine progressive CO2-Steuer für Betriebe und die Möglichkeit, klimafreundliche Investitionen steuerlich abzusetzen, scheinen bei der Regierung auf Zustimmung zu stoßen. Die grüne Kammerfraktion hat aber am Mittwoch auf einer Pressekonferenz darauf hingewiesen, dass andere Steuerfreibeträge und Steuerbefreiungen zu Einkommensausfällen von „jährlich mehr als einer Milliarde Euro“ beim Staat führen würden und daher „auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft“ werden müssten.

Eine grundsätzliche Übereinkunft scheint es innerhalb der Koalition für eine Spekulationssteuer auf bebaubaren Grundstücken und/oder leerstehenden Wohnungen zu geben. Wie sie genau aussehen soll, ist aber noch nicht geklärt. Ungewiss ist ebenfalls, ob sie vor der sich noch hinzuziehen drohenden Reform der Grundsteuer angewandt werden kann, auf deren Berechnungsgrundlage die Spekulationssteuer beruhen soll.

Bilanz Wenn die Regierungsparteien in einem Jahr Bilanz ziehen werden, um ihre Leistungen dem Wahlvolk zu präsentieren und sich für die nächste Legislaturperiode zu empfehlen, werden sie außer dem kostenlosen öffentlichen Transport, dem von der EU geforderten Klimaplan, einem zusätzlichen Urlaubstag und einem neuen Feiertag nur wenig zu berichten haben. Corona wird als Ausrede dafür herhalten müssen, dass groß angekündigte Projekte wie die Steuerreform und die Cannabis-Legalisierung trotz der sich erholenden Staatsfinanzen scheiterten. Dass die drei Koalitionspartner insbesondere in diesen beiden Dossiers keine gemeinsame Linie finden konnten, weil selbst innerhalb der einzelnen Parteien kein Konsens herrscht, spielt dann nur noch eine untergeordnete Rolle. In der Klimapolitik hat Luxemburg sich zwar ambitionierte Ziele gesetzt, doch bei der praktischen Umsetzung werden die höheren Einkommensschichten eindeutig bevorteilt. Und auch der viel beschworene Paradigmenwechsel im Wohnungsbau erweist sich bei näherer Betrachtung als Augenwischerei.

Um eine höhere Akzeptanz für ihre Politik in der Bevölkerung zu erreichen, könnte die Regierung alle diese Probleme gemeinsam und solidarisch mit den Sozialpartnern im Rahmen einer Tripartite angehen. Bereits unter Juncker war der Sozialdialog zurückgefahren worden. Unter Bettel wurde das 1977 von Thorn institutionalisierte Kriseninstrument quasi abgeschafft. Von dieser Regierung könnte demnach in Erinnerung bleiben, dass sie die Coronakrise zwar im Alleingang bewältigt, damit aber gleichzeitig das Luxemburger Modell begraben hat.

Luc Laboulle
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