Steve Jacoby und seine Kollegen wissen immer schon vor allen anderen, was in der Welt passiert. Im Informations- und Presseamt (Sip) versorgen sie ihre Abonnenten drei Mal am Tag mit der Presseschau

Von Beruf: Zeitungsleser

d'Lëtzebuerger Land vom 20.08.2021

Morgenstund Wenn Steve Jacoby morgens über die Autobahn nach Luxemburg-Stadt fährt, ist es noch ruhig auf den Straßen. Kein Gehupe, kein Drängeln, kein Stau. Es ist kurz nach fünf. Für einige Minuten hat er den Verkehr im Blick, und dann, für einige Stunden, das Weltgeschehen. Es drängt sich auf, sobald er die Tür aufschließt im Boulevard Roosevelt Nummer 33, dritter Stock, um diese Zeit ist sonst noch niemand im Gebäude. Draußen thront die Gëlle Fra auf der Place de la Constitution, drinnen riecht es nach frischgedrucktem Papier, ein Bündel Zeitungen liegt schwer auf dem Bürotisch und annonciert in schwarzen Lettern, was Journalisten rund um den Erdball bis Redaktionsschluss beschäftigt hat. „Afghanistan scheint heute definitiv das Thema zu sein“, sagt Jacoby, als er einen Blick auf die Bilder wirft, mit denen die Zeitungen titeln. Steve Jacoby leitet ein kleines Team, das sich um die Kommunikation der luxemburgischen Regierung kümmert. Das im Jahr 1944 unter dem Namen „Informationsamt“ (Office d’information) ins Leben gerufene Informations- und Presseamt (Sip) gehört zum Staatsministerium und untersteht der direkten Aufsicht des Premierministers. Jacobys Abteilung für Pressespiegel stellt täglich drei Presseschauen zusammen, beobachtet die audiovisuelle Presse und versendet die Meldungen der Presseagenturen. Einer durchforstet die Zeitungen, einer scannt die ausgewählten Artikel und speist die jeweiligen Metadaten ein, einer gibt den Scans und den abrufbaren Textdateien den letzten Schliff. Die Artikel werden mit einer Spracherkennung (OCR) versehen und sind so in der Datenbank des Sip als Pdf oder Textdatei zu finden. Empfänger sind höhere Beamte, Minister, Botschafter und Medienhäuser. Für Journalisten ist die Sip-Datenbank ein wichtiges Rechercheinstrument, sie reicht bis 1999 zurück. Wie viele Abnehmer der Luxemburger Pressespiegel hat, das ist „Betriebsgeheimnis“, sagt Jacoby und lacht.

Es ist 5.30 Uhr, als Steve Jacoby erst die Kaffeemaschine und dann den Rechner anschaltet. 9 002 Depeschen liegen ungeöffnet im Postfach, nicht ungewöhnlich nach vier Wochen Urlaub. Das sind alles Agenturmeldungen, „die gehe ich nach Stichworten durch“. An einem Dienstag wie diesem ist normalerweise nicht so viel los wie an einem Montag, wo die Wochenendausgaben noch mitbearbeitet werden müssen. Dienstags kommen auch kein Spiegel, Focus, Woxx, Land oder eine Revue heraus. Seit knapp 15 Jahren liest Jacoby tagein, tagaus Zeitung. Er macht das gerne, wie er sagt. „Ich freue mich immer noch jeden Morgen darauf, aufzustehen, ich bleibe durch meine Arbeit ja immer auf dem Laufenden“, und wenn man ihn so sieht, wie er da in Socken an seinem Schreibtisch sitzt, die Schuhe akkurat platziert, das Obst in Griffnähe, dann glaubt man ihm das. „Auch einen Kaffee, Stéphanie?, fragt Jacoby. Die Studentin hilft in den Semesterferien aus, mit einem frisch eingestellten weiteren Mitarbeiter ist die Mannschaft für heute komplett. An einer Pinnwand hängen ausgeschnittene Zeitungsartikel, vor allem Karikaturen aus dem Guardian. „Der Brexit berührt mich persönlich sehr“, sagt Jacoby. „Das war zu Zeiten, als es den Guardian in Luxemburg noch auf Papier gab.“ In einem Interview mit Jean-Claude Juncker ist eine Antwort mit gelbem Textmarker eingekreist: „Ich lese luxemburgische Zeitungen. Der beste Pressedienst der Welt ist der Sip. Sowohl der nationale als auch der internationale Pressespiegel sind perfekt. Es gibt keinen besseren auf der Welt als den luxemburgischen“, teilte der ehemalige Premierminister und Eurogruppenchef damals der Revue mit. „Ich bin sicher, das war nicht ironisch gemeint“, sagt Steve Jacoby und macht sich an die Arbeit.

Zuerst sind die nationalen Zeitungen dran. Jacoby scrollt über seinen Bildschirm, über das Luxemburger Wort, Tageblatt und markiert Beiträge, in denen Regierungen und Ministerien erwähnt werden. Der Pressespiegel soll den Ministern einen Überblick über die Berichterstattung über ihre Person und ihr Ministerium ermöglichen. Sie sollen sich auch über die Landesaktualität informieren können. Dabei liegt der Umfang des täglichen nationalen Pressespiegels, , bei etwa 50 Artikeln. Heute werden es sommerlochbedingt 32 sein. Der internationale Teil, spätestens um 10 Uhr fertig, kann bis zu 120 Artikel enthalten. Heute 42. Zu Zeiten Jean-Claude Junckers nahm der Wunsch nach Vollständigkeit manchmal groteske Züge an: So findet man in der Datenbank Beiträge mit junckerschen Zitaten aus der Ostthüringer Zeitung oder dem Offenburger Tageblatt.
Abkürzungen

Im nationalen Pressespiegel nimmt Jacoby alle Beiträge über Corona mit, „aber auch Kommunales muss drin sein, weil da Infos für die Gemeindepolitik drinstehen“, erklärt Jacoby. Der Pressespiegel ist eine Momentaufnahme der Presse, eine Reaktion auf die Arbeit der Regierung. Er zeigt den Ministern, welche gerade die wichtigen Themen in der Gesellschaft sind, wie die Information der Regierung über die Presse bei den Menschen ankommt. Reporter.lu und das Lëtzebuerger Journal sind nicht Teil der Presserevue. Weil sie komplett online sind und ihre Artikel hinter einer Bezahlschranke liegen, würde es dem Geschäftsmodell schaden, wenn ein Teil der Bevölkerung kostenlos auf die Artikel zurückgreifen kann. „Ich verstehe das“, sagt Jacoby, „aber wenn noch mehr Zeitungen ihre Printversionen einstellen und auf den Onlinezug springen, haben wir ein Problem.“

6.41 Uhr, draußen blasen Männer in orangefarbenen Westen Laubblätter weg, drinnen schlägt Steve Jacoby die Zeitungsblätter um. Auf dem Tisch liegen 19 Ausgaben aus dem europäischen Ausland sowie eine Ausgabe der New York Times. Darin werden die Bundestagswahl und das Für und Wider eines höheres Renteneintrittsalters diskutiert. Das bestimmende Thema ist aber die Lage in Afghanistan. Die Süddeutsche Zeitung aus München kritisiert den amerikanischen Präsidenten Biden dafür, dass der Abzug der US-Truppen überhastet erfolgt sei. Die Washington Post bebildert ihr Meinungsstück zum Abzug der US-Truppen mit einem Foto aus der Zeit des Vietnamkriegs. Dazu heißt es: „Die heutige Generation von Amerikanern hofft vielleicht, dass ihnen der Anblick des Falls der afghanischen Hauptstadt Kabul erspart bleibt. Dass sie nicht Zeuge afghanischer Menschenmassen werden, die verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Land suchen, so wie die Südvietnamesen vor 46 Jahren verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrem Land rangen. Doch in der Offensive der Taliban fallen die Städte Afghanistans wie Dominosteine. Wir hätten wissen müssen, dass dieser Tag kommen würde. Dieser längste bewaffnete Konflikt in der Geschichte der USA war ein Krieg, den die Vereinigten Staaten nie gewinnen konnten“, bilanziert die Zeitung aus Amerika. Aus Sicht der Neuen Zürcher Zeitung wurde die Realität in Afghanistan zu lange verdrängt: „Afghanistan konnte auch von der mächtigsten Nation der Welt und ihren Verbündeten, mit dem längsten Kriegseinsatz der amerikanischen Geschichte und mit etlichen Milliarden Dollar nicht in die westliche Weltgemeinschaft des 21. Jahrhunderts katapultiert werden. Dazu waren weder die gesellschaftlichen Strukturen noch eine große Mehrheit der Bevölkerung bereit.“ Jacoby überfliegt diese Zeilen in Sekundenschnelle, ohne sie gänzlich zu lesen. Es muss schnell gehen. Den Artikel „Ebola ist zurück in Afrika“ kreist er ein. „Hier geht es um die Elfenbeinküste und weil das Land nicht weit von Mali, Burkina Faso und dem Senegal ist, könnte das von Interesse sein.“ Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit pflegt Luxemburg unter anderen zu diesen drei Ländern in Westafrika projektbezogene Beziehungen. Über anderen Artikeln schreibt Jacoby Abkürzungen wie BA PC, steht für Bankfilialen und Konsumentenschutz; LO, Logement; DD, Développement durable, PD, Protection des données oder ALACRI, steht für Allemagne Asie centrale Relations internationales. In dem Artikel geht es um deutsche Hilfe für Afghanistan. 116 solcher Abkürzungen liegen ausgedruckt auf dem Schreibtisch. Jacoby kennt sie alle auswendig. „CG, Conflits et guerres, benutzen wir jetzt schon seit 20 Jahren, sagt Jacoby, der dieses Kürzel nun plötzlich nach der Machtübernahme durch die Taliban wieder rauskramen muss.

Papierfreak 7.19 Uhr, Jacobys Handywecker schlägt Alarm. „Ich muss jetzt das pdf für die nationale Presserevue fertigmachen, sonst lese ich hier weiter und kriege nicht mit, wie die Zeit vergeht.“ Studentin Stéphanie schiebt einen Artikel in den Scanner. Rrrrratsch. „Das tut mir immer weh in den Ohren“, sagt Jacoby und hält sich die Hände an den Kopf. Geknittert kommt die Seite wieder raus. „Unser Ziel ist, dass wir mehr und mehr digital werden, aber das ist leichter gesagt als umsetzbar.“ Die Zeitung vum Lëtzeburger Vollek liegt nur in Papierversion vor Jacoby. Um 7.48 Uhr schießt er die nationale Presseschau durch den Verteiler. Ausgedruckt wird hier kein Pressespiegel mehr. Außer, Jean-Claude Juncker ist im Haus. Als ehemaliger Premierminister hat er hier noch ein Büro mit Sekretärin. „Juncker ist ein Papierfreak“, sagt Jacoby und lacht. „Einmal haben wir ihm Hunderte Seiten nach Russland faxen müssen, als er dort auf Staatsbesuch war. Früher ist auch immer jemand vom Sip mitgefahren, wenn Minister auf Reisen waren, damit man noch schnell etwas ausdrucken konnte.“

Um 8.47 Uhr erscheint ein Tweet von Paperjam auf der Sip-Seite: Die Universität Luxemburg gehört laut Shanghai-Ranking zu den 700 besten Universitäten der Welt, die Bereiche Elektrotechnik und Ingenieurwesen sogar zu den 100 besten. Twitter ist der einzige Kanal aus den sozialen Netzwerken, den Jacobys Team beobachtet. Alles andere wie Facebook und Instagram mache die Onlineabteilung des Hauses. Jacoby, der so viel liest am Tag und doch nichts richtig, hatte eine Zeit lang einen „Lese-ich-später-Stapel“. Ausgerissene Zeitungsseiten mit Artikeln zu Erziehungsfragen oder Testberichten über Smoothie-Mixer, die er sich beiseite gelegt hat, um sie nach Feierabend zu lesen. „Aber dazu kam ich nie, ich habe das irgendwann sein gelassen.“ Das Lesen gehört zum Leben des studierten Geschichtswissenschaftlers. Im Spanienurlaub war er die ersten drei Tage „ganz hippelig“, weil sein Handy kaputt war. „Ich musste meine Frau anbetteln, dass ich wenigstens den Guardian lesen kann.“ Wenn er etwas über Luxemburg liest, mailt er es sich zu. Abgewöhnt hat sich Jacoby inzwischen, abends im Bett politische Bücher zu lesen. Das sei vor allem zu Trump-Zeiten nicht gesund gewesen. „Ich lese mich jeden Abend in den Schlaf“, sagt Steve Jacoby. „Am liebsten Krimis, da steht nichts drin über Luxemburg.“

Franziska Jäger
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