Vor zwei Wochen verursachten andauernde starke Regenfälle die „teuerste Katastrophe in der Geschichte des Luxemburger Versicherungswesens“.
Hätte der Schaden durch früheres Eingreifen begrenzt werden können?
Ein kritischer Rückblick

HQ100

Hochwasser  in der rue  de Beggen
Foto: Gilles Kayser
d'Lëtzebuerger Land vom 30.07.2021

Summertour Dass am Dienstag um 13.41 Uhr Starkregen und Gewitter einsetzten, als sie mit 31 Minuten Verspätung in ihrer schwarzen Limousine vor dem Einsatzzentrum in Sandweiler vorfuhr, war reiner Zufall. Dass es später an diesem Tag erneut zu lokalen Überschwemmungen kam, auch. Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) tourte in dieser Woche (zum zweiten Mal nach 2019) durch die Einsatzzentren, um die Rettungskräfte, die ihr unterstehen, persönlich kennenzulernen und sich dabei für Social Media fotografieren zu lassen. In den vergangenen Wochen waren die Einsatzkräfte des CGDIS besonders beansprucht worden. Zwischen dem 14. und dem 15. Juli waren gebietsweise über 100 Liter Regen pro Quadratmeter gefallen. Alzette und Sauer und ihre Nebenflüsse Our, Mamer und Weiße Ernz (und auch die Korn) waren über die Ufer getreten. An neun von 41 Messstationen wurde ein HQ100 (Jahrhunderthochwasser, das Q steht für quantitas) gemessen, an 15 Messpunkten fielen die historischen Höchststände, zum Teil um Längen. 6 230 Anrufe gingen beim Notruf 112 ein, die Rettungsdienste fuhren rund 1 200 Einsätze, mehr als 400 Menschen mussten zeitweise umgesiedelt werden, manche können bis heute nicht in ihr Haus zurück.

Wie war es so weit gekommen? Am Sonntag, 11. Juli, war aufgrund digitaler Wettervorhersagen erkennbar geworden, dass zwischen dem 13. und 15. Juli extreme Niederschläge im Raum Benelux, im Nordosten Frankreichs und in Westdeutschland nicht auszuschließen seien. Laut Meteolux sei aber bis zuletzt unklar gewesen, welche Regionen genau betroffen sein würden und wie viel Regen das auf den deutschen Vornamen Bernd getaufte Tief mit sich bringen würde. „En général, les modèles de prévision ont sous-estimé les cumuls de précipi-tations sur 24 heures au Grand-Duché pour cet évènement“, schreibt der Wetterdienst in einem am 19. Juli veröffentlichten Bericht.

Am frühen Morgen des 13. Juli gab Meteolux eine Alerte jaune für den darauffolgenden Tag heraus. 24 Stunden später rief es die Alerte orange für Regenfälle aus: zwischen 12 Uhr mittags und 4 Uhr nachts könnten 41 bis 60 Liter Regen pro Quadratmeter fallen. Am 14. Juli um 12 Uhr mittags warnte das Wasserwirtschaftsamt mit einer Alerte orange vor Überschwemmungen. Um 16 Uhr aktivierte das CGDIS sein Kriseninstrument Centre de gestion des Opérations (CGO) und stattete den Notruf 112 mit zusätzlichem Personal aus, um die vielen Anrufe entgegennehmen zu können. Um 17.20 Uhr rief das Wasserwirtschaftsamt die Alerte rouge für Überschwemmungen aus. Zu dem Zeitpunkt war die Feuerwehr schon 100 bis 150 Mal wegen überfluteter Wohnungen und Keller ausgerückt. In Echternach bereiteten die Einsatzkräfte sich auf das Schlimmste vor. Um 18 Uhr warnte Radio 100,7 vor Hochwasser in selten betroffenen Zonen und berichtete, dass die Alzette bereits stellenweise über die Ufer getreten und auch an der Sauer mit hohen Pegelständen zu rechnen sei. RTL Radio warnte vor Aquaplaning und Überschwemmungen im Raum Mersch und Ettelbrück.

Zehn Stunden Danach passierte in der offiziellen Kommunikation lange Zeit nichts. Um 0.42 Uhr meldete das CGDIS, dass nicht alle Anfragen an die Feuerwehr mehr erfüllt werden könnten, weil vor allem Personen in Not und kritische Infrastrukturen beschützt werden müssten. Menschen, die in Überschwemmungsgebieten wohnen, sollten ihre Autos in Sicherheit bringen und ihre Häuser beschützen: „Halten Sie sich bitte an die Empfehlungen, so wie sie auf inondations.lu zu finden sind“, riet das CGDIS in seiner Mitteilung. Um 2.10 Uhr, zehn Stunden nachdem das CGO aktiviert worden war, teilte der Service de la Communication de crise des Staatsministeriums mit, dass der Haut Commissaire à la Protection Nationale (HCPN) auf Anfrage von Premierminister Xavier Bettel (DP) wegen der schnell steigenden Wasserpegel den Plan d’intervention d’urgence en cas d’intempéries (PIU Intempéries) aktiviert habe und die darin vorgesehene Krisenzelle an Mitternacht unter der Leitung von Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) zusammengekommen sei. Neben dem HCPN nahmen auch CGDIS, Wasserwirtschaftsamt, Straßenbauverwaltung, Armee, der Stromnetzbetreiber Creos, Meteolux, Polizei und der Krisenkommunikationsdienst der Regierung an dem Treffen teil. Einen unmittelbaren praktischen Nutzen hatten die zwischen Mitternacht und 3 Uhr veröffentlichten Informationen und Verhaltensregeln nicht, denn sie gingen an die Medien, die nachts in der Regel keine Nachrichten senden. Die Menschen in den überschwemmten Gebieten wurden nicht direkt gewarnt, weil die dafür vorgesehene App Gouv-Alert nur eingeschränkt funktioniert und die Warnung eh zu spät verschickt wurde.

Im Vergleich zu den Nachbarregionen kam Luxemburg glimpflich davon. Tote und Verletzte waren nicht zu beklagen, doch der Materialschaden ist hoch. Am 15. Juli beschloss der Regierungsrat, 50 Millionen Euro Soforthilfe zur Verfügung zu stellen. Auch die Versicherungen schätzten die durch sie zu leistenden Entschädigungen auf 50 Millionen Euro. Vor einer Woche erhöhten sie ihre Schätzungen auf 120 Millionen Euro und sprachen von der „teuersten Katastrophe in der Geschichte des Luxemburger Versicherungswesens“.

Hochwasserwarnsystem Hätte der Schaden begrenzt werden können? Haben die staatlichen Behörden und die Regierung nicht rechtzeitig reagiert? Wurde der Notfallplan zu spät aktiviert? Der Luxemburger Forscher Jeff Da Costa, der einen Master in angewandter Meteorologie hat und zurzeit ein PhD in Umweltwissenschaften an der Universität Reading absolviert, hatte in mehreren Interviews scharfe Kritik an den Behörden geübt. Die Berichte des Europäischen Hochwasserwarnsystems Efas, das 2002 nach der Hochwasserkatastrophe in Mitteleuropa aufgebaut wurde, seien nicht ernst genug genommen und es sei keine „impaktvolle Vorbeugung“ geleistet worden, monierte Da Costa am vergangenen Samstag im Wort. Der Krisenplan der Regierung sei ineffizient, die Politiker hätten nicht angemessen auf die Warnungen der Meteorologen reagiert.

In einer ersten Bilanz vom 16. Juli weist das Efas darauf hin, dass es ab dem 10. Juli Vorhersagen an die zuständigen Behörden geschickt habe. Bis zum 14. Juli seien insgesamt 25 Benachrichtigungen zu spezifischen Regionen in den Flussbecken von Rhein und Maas herausgegangen, die am schlimmsten von den Umwettern betroffen waren. Ist Jeff Da Costas Kritik demnach berechtigt? Der Partner der Efas in Luxemburg ist das Wasserwirtschaftsamt. Deren Direktor Jean-Paul Lickes erklärt auf Land-Nachfrage, die einzige Warnung des Efas für Luxemburg sei am 14. Juli um 11.30 Uhr für die Sauer verschickt worden. Dabei habe es sich um eine informelle Warnung gehandelt, was bedeute, dass die Vorhersagen nicht eindeutig seien. Dieser Warnung zufolge sollten die Pegelstände der Sauer gegen Mitternacht erste Höchststände erreichen; die Wahrscheinlichkeit für ein fünfjähriges Hochwasser habe das Efas mit 50 Prozent, die für ein 20-jähriges Hochwasser mit 35 Prozent angegeben. „Die Warnung war also weit von dem entfernt, was abends eingetreten ist“, betont Lickes in einer schriftlichen Antwort. Die vom Wasserwirtschaftsamt verschickten Meldungen seien denen des Efas weit voraus gewesen. Eine Land-Anfrage an das Efas blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Schutzvorkehrungen Nicht zuletzt weist Lickes darauf hin, dass der Service de prévision des crues (SPC) des Wasserwirtschaftsamts schon seit dem 13. Juli um 14.30 Uhr im Wachsamkeitsmodus (Phase de vigilance) gewesen sei. Am selben Tag habe man noch eine Hochwassermeldung für Campingplätze und Baustellen herausgegeben, hieß es vergangene Woche auf einer Pressekonferenz. Die Phase de pré-alerte habe das Wasserwirtschaftsamt am 14. Juli gegen Mittag eingeläutet, um 17 Uhr dann die Phase d’alerte. CGDIS-Generaldirektor Paul Schroeder erklärt dem Land, am frühen Nachmittag des 14. Juli habe der Notrufdienst die Zenterchefs und Bürgermeister aller Gemeinden per SMS gewarnt, dass es zu Überschwemmungen kommen könnte. Bei vier Bürgermeister/innen sei die Nachricht laut CGDIS wegen technischer Probleme wohl nicht angekommen. Nach Erhalt der SMS hätten die Gemeindedienste schon damit begonnen, Schutzvorkehrungen zu treffen und Campingplätze und Baustellen an Sauer und Our zu evakuieren, sagt Schroeder. Nachdem das Wasserwirtschaftsamt nach 17 Uhr die Alerte rouge ausgerufen und dem CGDIS mitgeteilt hatte, dass in verschiedenen Regionen die HQ100-Marke erreicht werden könnte, seien die Gemeinden in diesen Regionen noch einmal zusätzlich in Alarmbereitschaft gesetzt worden. Allerdings habe man den Eindruck gehabt, dass manche Bürgermeister/innen und Einwohner/innen nicht daran glaubten, dass es zu einer Katastrophe kommen würde, weil viele nur die weniger schlimmen Hochwasser der vergangenen Jahre in Erinnerung gehabt hätten, meint Schroeder. Dabei habe das Wasserwirtschaftsamt extra noch einmal darauf hingewiesen, die Rettungskräfte sollten den Menschen in den betroffenen Gebieten deutlich machen, dass es schlimmer werden könnte, als das, was sie bis dahin kannten.

Vieles deutet demnach darauf hin, dass das der grünen Umweltministerin Carole Dieschbourg unterstehende Wasserwirtschaftsamt die außergewöhnlich hohen Pegelstände an Alzette, Sauer und Our schon relativ früh vorhergesehen hat. Die von der Behörde beschriebene Prozedur (SPC, pré-alerte) lässt darauf schließen, dass sie bereits am 13. Juli in einem Hochwasserszenario war. Demzufolge hätte die Regierung schon an dem Tag den ausführlicheren und für andauernde Regenfälle gedachten Notfallplan für Überschwemmungen (PIU Inondations) ausrufen können, in dem dem Wasserwirtschaftsamt eine zentrale Rolle zukommt. Die Krisenzelle hätte dann genug Zeit gehabt, die Arbeit von CGDIS, Straßenbauverwaltung und anderen beteiligten Behörden zu koordinieren und die Bevölkerung umfangreich zu informieren. Dass der HCPN auf Antrag des Staatsministers mutmaßlich erst am Abend des 14. Juli (wann genau weiß offenbar niemand) den für extreme meteorologische Phänomene wie Hitze, Starkregen, Tornados oder Schneefälle ausgelegten Notfallplan für Schlechtwetter (PIU Intempéries) aktiviert hat, lässt darauf schließen, dass auch die Regierung zu lange nicht an die Gefahr geglaubt oder die Lage falsch eingeschätzt haben könnte. In diesem Plan werden lediglich die Vorhersagen von Meteolux berücksichtigt. „Dans le cadre du ‚Plan Intempéries‘, seuls les prévisions et niveaux d’alerte fournis et publiés par MeteoLux (www.meteolux.lu) font foi. D’autres sources et médias sont susceptibles de fournir des informations similaires mais divergentes. Elles peuvent prêter à confusion dans l’évaluation de la situation et sont à écarter“, heißt es in der öffentlich einsehbaren Version. Das Problem war aber, dass Meteolux zu keinem Zeitpunkt eine Alerte rouge herausgegeben hat. Den Berechnungen des staatlichen Wetterdiensts zufolge war die Wahrscheinlichkeit, dass 50 Liter Regen pro Quadratmeter fallen würden, eher gering, wie Meteolux in seinem Bericht vom 19. Juli schreibt.

Politische Verantwortung Der Haut commissaire à la protection nationale, Luc Feller, weilt zurzeit in Urlaub und war für das Land nicht zu erreichen. Das Staatsministerium wollte die Frage, wieso der PIU Intempéries anstatt des PIU Inondations ausgerufen wurde, ebenfalls nicht beantworten und verwies an das HCPN und an das Innenministerium. Innenministerin Taina Bofferding, die zwar die Krisenzelle leitete, aber nicht die politische Verantwortung für die Aktivierung des Notfallplans trägt, hat am Dienstag gegenüber dem Land die späte Einberufung der Krisenzelle damit begründet, dass HCPN, CGDIS und Wasserwirtschaftsamt schon seit dem Nachmittag in telefonischem Kontakt zueinander gestanden hätten und man erst einmal genügend Daten hätte sammeln müssen. Zudem habe das CGDIS die Gemeinden ja schon am Nachmittag gewarnt. Einige Gemeinden hätten früher reagiert, andere eben später, betont die Innenministerin und verweist auf die kommunalen Zuständigkeiten. Nicht zuletzt habe die Regierung zwar zur Wachsamkeit aufrufen wollen, ohne aber unnötig Panik zu verbreiten.

Der Echternacher Bürgermeister Yves Wengler (CSV) erklärt auf Nachfrage, er sei „im Laufe des Mittwochabend“ vom CGDIS kontaktiert worden, dass er um 23 Uhr in das Einsatzzentrum kommen solle, wo ihm und anderen betroffenen Bürgermeistern erklärt worden sei, dass mit einem HQ100 zu rechnen sei. Der Bürgermeister der Gemeinde Rosport-Mompach, Romain Osweiler (CSV), sei am frühen Nachmittag von einem Beamten des Wasserwirtschaftsamts gewarnt worden, wie er erzählt. Gegen 20 Uhr habe er dann zusammen mit der Feuerwehr die Bewohner informiert. Viele Bürger hätten die Warnungen aber nicht ernst genug genommen, weil sie nicht mehr an solche Hochwasser gewohnt seien, sagt Osweiler dem Land. Der Bürgermeister der Gemeinde Bettemburg, Laurent Zeimet (CSV), erklärte auf Nachfrage, er sei von staatlicher Seite überhaupt nicht über mögliche Hochwasserrisiken in Kenntnis gesetzt worden. Um 23 Uhr sei in seiner Gemeinde noch alles ruhig gewesen, gegen 3 Uhr habe man dann plötzlich Menschen aus ihren Häusern retten müssen. Weil keine Rettungskräfte vor Ort waren, habe er die 112 angerufen. Das CGO habe ihm daraufhin Froschmänner geschickt. In der Nacht hatte das CGDIS offiziell mitgeteilt, dass es sinnlos sei, noch Keller auszupumpen; die fast 4 000 Einsatzkräfte würden sich nur noch auf die Rettung von Personen in Not und den Schutz kritischer Infrastrukturen wie Krankenhäuser und Stromverteiler konzentrieren.

Das Krisenmanagement der Regierung beim Hochwasser am 14. und 15. Juli soll nun Gegenstand einer (weiteren) unabhängigen Studie werden. Das forderten zumindest die vier Oppositionsparteien CSV, ADR, déi Lénk und Piraten am Mittwoch in einem gemeinsamen Schreiben an den Kammerpräsidenten Fernand Etgen (DP). Damit die Studie durchgeführt werden kann, muss sich aber mindestens eine Mehrheitspartei der Forderung der Opposition anschließen. Da das Parlament seit vergangener Woche im Urlaub ist, dürfte vor Mitte Oktober nicht mit einer Abstimmung zu rechnen sein.

Luc Laboulle
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