Der Schulminister will mehr Englischangebote in der öffentlichen Schule. Was heißt das für das Luxemburger Schulsystem?

In English, please!

d'Lëtzebuerger Land vom 04.11.2016

Das Lycée technique Michel Lucius durchläuft derzeit eine rasante Entwicklung: Auf dem Schulhof und in den Klassen ist Englisch nicht mehr zu überhören. 2012 waren es gerade einmal 14 Schüler, die das englischsprachige Angebot der hauptstädtischen Sekundarschule auf dem Limpertsberg nutzten, nur vier Jahre später sind es 412.

„Zu uns kommen Schüler unterschiedlicher Herkunft, die Englisch als Hauptsprache haben“, beschreibt Schulleiterin Pascale Petry den Wandel. Aus mehr als 70 Ländern stammen die Jugendlichen. Viele sind nach Luxemburg gezogen, weil der Vater oder die Mutter im Großherzogtum eine Arbeit angenommen hat, andere sind vor Krieg, Terror und Armut geflohen. „Manche bleiben einige Jahre, andere lassen sich dauerhaft nieder. Viele schicken ihr Kind bewusst auf eine öffentliche Schule“, sagt Petry.

Was als Mini-Experiment auf einer 5e im Oktober 2011 begann, hat sich inzwischen zu einem veritablen Standbein der Schule entwickelt: Ein Viertel der 1 500 LTML-Schüler, 16 Klassen, besuchen den englischsprachigen Unterricht. Das Angebot kommt so gut an, dass es nach fünf Jahren Probezeit eine gesetzliche Basis bekommen soll. Ein Gesetzentwurf dazu liegt seit Mitte Oktober im Parlament.

Dieses Jahr hat die erste englischsprachige Schülergeneration des LTML eine weitere wichtige Hürde genommen: Von 13 Kandidaten bestanden elf die Prüfungen zum GCSE (General Certificate of Secondary Education). Das englische Sekundarschulzeugnis wird am Ende der 7e respektive der 3e erworben, daran schließen sich die Advanced subsidiary Levels an, besser bekannt als A-Levels. Geprüft wird streng nach englischen Maßstäben: Die Tests werden an eine Jury nach London geschickt.

Mit dem Ausbau des englischsprachigen Angebots am LTML setzt Schulminister Claude Meisch, wie angekündigt, seine Politik der Diversifizierung des schulischen Angebots fort. „Le Luxembourg se doit de proposer une offre scolaire publique qui répond aux bésoins de ses résidents“, steht im Motivenbericht zum Gesetzentwurf. Die Zahl der englischsprachigen Schüler auf Luxemburgs öffentlichen Sekundarschulen nahm von 88 im Jahr 2001 auf 385 im Jahr 2015 zu, in der Grundschule stieg ihre Zahl von 458 im Jahr 2010 auf 740. Das klingt zunächst nicht nach sehr viel, mit weniger als einem Prozent ist der Anteil englischsprachiger Schüler an der Gesamtschülerbevölkerung (ohne die Privatschulen) gering. Aber die Tendenz ist steigend, und die englischsprachigen Angebote sind ein zunehmend wichtiger Faktor in der Standortpolitik.

Nicht alle sehen diese Entwicklung positiv. Ausgerechnet am Lycée Michel Lucius selbst regt sich Widerstand. In einer E-Mail an die Redaktion beschwerten sich „Administrés qui ont le ras le bol“ am vergangenen Freitag über „skandalöse Zustände“ an ihrer Schule. „La filière anglophone est un enseignement classique, que le LTML, de part son statut légal (EST) n’est pas en droit d’organiser“, entrüsten sich die anonymen Schreiber. Lehrer würden gezwungen, bei dem Englisch-Projekt mitzumachen, ob sie wollten oder nicht. Die Zahl derer, die der Schule aus Frust den Rücken kehrten, sei nie größer gewesen, lautet der Vorwurf. Das Projekt und seine Finanzierung seien ohne gesetzliche Basis. Dieses Problem zumindest könnte bald behoben sein: Der Staatsrat legte zehn Tage nach Depot der Gesetzesvorlage sein Gutachten vor; so schnell kann es gehen, wenn die Zeit drängt.

Schulleiterin Pascale Petry, vom Land zu den Anschuldigungen befragt, will sich derzeit nicht äußern. Für sie kommt die Kritik zur Unzeit; ihr siebenjähriges Mandat für die Leitung der Schule läuft aus, über eine Verlängerung entscheidet der Minister. Petry besteht allerdings darauf, dass das Projekt breite Zustimmung in der Schule und darüber hinaus finde. Schließlich sei es durch den schuleigenen Conseil d’éducation abgesegnet und vom Minister genehmigt. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein pädagogisches Vorzeigeprojekt über Jahre ohne gesetzliche Grundlage bleibt: Das Proci (Projet réussite scolaire cycle inférieur), das 2001 unter der damaligen DP-Ministerin Anne Brasseur ins Leben gerufen wurde, läuft bis heute als pädagogisches Innovationsprojekt ohne rechtlichen Rahmen. Mit der Sekundarschulreform sollen Elemente davon endgültig Eingang in die allgemeine Schulorganisation und den nationalen Lehrplan finden.

Ob es sich bei der Empörungs-E-Mail um den Alleingang einiger weniger Nörgler handelt, die sich mit der neuen Ausrichtung ihrer Schule nicht anfreunden wollen, ist unklar (ein Kontaktversuch des Land blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet). Doch auch so wirft die anglophone Ausrichtung der Schule Grundsatzfragen auf: Wer entscheidet auf welcher Grundlage darüber, welche Angebote in einer öffentlichen Schule ausgebaut werden? Und was bedeutet das für die Sprachenpolitik?

Früher war die Arbeitsteilung einigermaßen eindeutig: Schulpflichtige Kinder besuchten im Prinzip eine öffentliche Schule, wo sie auf Deutsch Lesen und Schreiben lernten und später in Französisch auf einem Niveau unterrichtet wurden, das sie auf die Sekundarstufe vorbereitete. Dort hatten sie die Wahl zwischen einer Berufsausbildung, Technique oder Classique (vorausgesetzt, die Leistungen stimmten). Wer einen anderen Abschluss wollte, oder ein anderes pädagogisches Konzept, schickte sein Kind auf eine Privatschule oder ins Ausland. Auf eigene Kosten.

Diese Aufteilung verschwimmt zunehmend. Inzwischen bieten immer mehr Regelschulen weitere Bildungsabschlüsse neben Technique-Diplom oder Première-Examen an: Zum Bac international auf Französisch am Lycée Technique du Centre, das sich ursprünglich an Schüler richtete, die Probleme mit der Fremdsprache Deutsch hatten, gesellte sich alsbald das International Baccalaureate auf Englisch am Athenäum für Kinder aus der englischsprachigen Mittelschicht. Darüber hinaus bereiten Sekundarschulen, wie das Lycée classique in Diekirch und in Echternach mit Zusatzkursen auf die Zulassungsexamen zu den französischen Eliteschulen, den Grandes écoles, vor. Mit den GCSE und den A-Levels wird nun ein zusätzliches englischsprachiges Angebot für die Sekundarstufe fest eingerichtet.

Die Vielfalt der Schul- und Sprachenangebote ist politisch so gewollt. Doch wie neue Programme entstehen, ist für Außenstehende mitunter eine Black box und schwer nachzuvollziehen. In der Vergangenheit wurden neue Schulstandorte im Plan sectoriel Lycées festgelegt: Auf der Basis von regional aufgeschlüsselten Schülerzahlen, geschätzten Bevölkerungs- und Mobilitätstrends und anvisierten Landesentwicklungszielen wurden Standorte für Lyzeen bestimmt. Oft wurden die Schätzungen von der Wirklichkeit eingeholt, zuletzt beim sich im Bau befindenden Lycée Edward Steichen in Clerf im Norden des Landes, das schon vor seiner Eröffnung im Jahr 2018 um zusätzliche Klassensäle erweitert werden soll.

Die CSV hatte sich im Kontext der Regierungspläne zur neuen Europaschule in Differdingen nach dem Sektorplan erkundigt. „Trotz aller Autonomie kann es nicht sein, dass die Schulen ganz allein entscheiden, wie sie sich entwickeln“, sagte Martine Hansen, bildungspolitische Sprecherin der CSV dem Land. Die Lyzeen erhalten mit der Sekundarschulreform mehr Autonomie über Personal und Finanzen. Sie können ihr pädagogisches Profil selbst bestimmen und sollen ihre Qualität verbessern – aber wer steuert das große Ganze? Die Pressesprecherin des Schulministers verweist kurz und knapp auf den Sektorplan von 2005. Aber der ist, bis auf das geplante Lyzeum in Mondorf, weitgehend abgearbeitet. Eine Arbeitsgruppe des Nachhaltigkeits- und des Schulministeriums berät derzeit über eine Neuauflage. Doch zunächst müssen die primären Landesentwicklungspläne mit künftigen Entwicklungsschwerpunkten verabschiedet werden, bevor in einer zweiten Phase der Sektorplan Lyzeen überarbeitet werden kann. Eines habe man erkannt, so Frank Vansteenkiste, Regierungsberater im Nachhaltigkeitsministerium: Auf „demografische und geografische Gegebenheiten allein zu setzen und einfach Lücken zu schließen, macht keinen Sinn.“ Vielmehr müssten ergänzende Faktoren, wie Sprachhintergrund, berufliches Angebot, regionale Bedarfe bei der Planung einer neuen Schule oder eines Unterrichtsangebots berücksichtigt werden. Die Hoheit hierfür liege beim Fachminister.

Doch seit Meischs Amtsantritt lässt ein solcher Plan auf sich warten. So kommt es, dass programmatische Neuausrichtungen und Personalentscheidungen teilweise willkürlich erscheinen, obwohl dahinter vielleicht wohl begründete Standortüberlegungen stehen. „

Laut im Rahmen der Volkszählung durchgeführten Sprachenzensus hatten 2011 nur zwei Prozent der Bevölkerung Englisch als Haupt- respektive Erstsprache, sieben Prozent nutzen es regelmäßig zuhause, so der Soziologe Fernand Fehlen in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift Forum. Englisch sei besonders präsent in den dynamischen Wirtschaftssektoren und in Berufen, die eine höhere Qualifikation erfordern: 58 Prozent der Führungskräfte sprechen Englisch, 52 Prozent der Akademiker, so Fehlen, wenngleich Französisch mit 68 Prozent die meist genutzte Sprache in der Luxemburger Arbeitswelt bleibe.

Diese Erkenntnisse decken sich mit den Befunden einer Bedarfsanalyse für englischsprachige Schulangebote, die das Ministerium 2013 auf den Weg gebracht hatte, aber erst im Februar diesen Jahres nach einer weiteren Befragung 2015 veröffentlichte: Insgesamt 86 Unternehmen und 829 Angestellte nahmen an der Umfrage teil. Einhellige Einschätzung: Es gebe einen „ausgeprägten und dringenden“ Bedarf an englischsprachigen Unterrichtsangeboten im Land. Jedes Jahr würden die befragten Unternehmen etwa 1 500 Jobs nach Luxemburg verlagern (Relocations), davon seien zwei Drittel Kurzzeitverträge. Und da war von Verlagerungseffekten durch den „Brexit“ noch nicht die Rede. Etwa 650 Angestellte bekundeten ihr Interesse an einem englischsprachigen Unterrichtsangebot, hatten aber erhebliche Probleme im mehrsprachigen Luxemburger Schulsystem etwas Passendes für ihre Kinder zu finden, so das Fazit der Umfrage. 27 Prozent der befragten Beschäftigten schickten ihr Kind auf eine öffentliche Schule, 44 Prozent auf eine gebührenpflichtige Privatschule, wie die International School auf dem Geesseknäppchen, die St. George’s International School in Hamm oder die Waldorfschule in Limpertsberg. Seit diesem Schuljahr kommt die École internationale de Differdange (EIDD) hinzu: 21 Schüler der Grundschule und 15 auf der Sekundarstufe wählten Englisch als Hauptsprache, von insgesamt 150. Über hundert Nationen sind an der Schule vertreten. Die EIDD, derzeit noch provisorisch untergebracht, soll bei Fertigstellung im Jahr 2020 bis zu 1 400 Schüler aufnehmen.

Man muss keine Hellseherin sein, um vorherzusagen, dass der Trend anhalten dürfte. Hält Regierung an ihren Wirtschafts- und Wachstumszielen fest, wird sich die Zahl englischsprachiger Schüler auch in Zukunft positiv entwickeln. Vor allem im Dienstleistungssektor, bei den Informationstechnologien, in der Forschung und im Finanzsektor setzt die blau-rot-grüne Koalition auf Ausbau, in diesen Bereichen ist Englisch als Geschäfts- und Umgangssprache besonders gefragt. Mit der Promotion von Luxemburg als internationalem Wirtschaftsstandort gehen demnach wichtige, potenziell konfliktträchtige gesellschaftliche Fragen einher: die nach der Rolle der öffentliche Schule und die nach der Sprachenpolitik.

Ënnerschiddlech Schoul fir ënnerschiddlech Kanner heißt das Credo von Minister Meisch, der wie kein anderer Schulen dazu ermuntert, sich eigene pädagogische Profile zu geben und sich stärker auf die Heterogenität der Schüler einzustellen. Darunter scheint der liberale Politiker in erster Linie unterschiedliche Unterrichtsangebote für unterschiedliche Schüler zu verstehen. Je mehr sich die Regelschulen für die Vielfalt öffnen, so wird dies nicht ohne Auswirkungen auf die Privatschulen, auf die Bildungslandschaft insgesamt bleiben. Warum, dürften sich Eltern fragen, sollten sie überhaupt noch teure Schulgebühren bezahlen, wenn sie dasselbe Angebot künftig gratis in der öffentlichen Schule bekommen? Luxemburgische Beamte schicken schon jetzt ihre Söhne und Töchter kostenlos auf die englischsprachigen Klassen des Athenäums, statt mehrere Tausend Euro jährlich für eine Privatschule auszugeben. Bisher konnten die Privatschulen durch herausragende Leistungen und innovative Pädagogik punkten, doch der Vorteil schrumpft, wenn öffentliche Schulen inzwischen ganze Programme der Privatschulen übernehmen. Offiziell hat sich noch keine der Privatschulen über die zunehmende Konkurrenz der Staatsschulen beschwert, aber hinter den Kulissen ist die Entwicklung sehr wohl Thema.

Der nimmermüde Erziehungsminister hat kürzlich angekündigt, auch das 2013 zuletzt geänderte Privatschulgesetz überarbeiten zu wollen. Bisher ist bekannt, dass im Zuge der Reform Privatschulen dazu verpflichtet werden sollen, auch Luxemburgischkurse anzubieten. Damit ist zwar längst nicht sichergestellt, dass alle hier lebenden ausländischen Kinder tatsächlich Luxemburgisch lernen, aber Meisch ist ein gewiefter Taktiker und weiß, welche Symbolpolitik bei den Wählern ankommt.

Doch wenn sein Ziel ist, für jeden maßgeschneiderte Unterrichtsangebote zu schaffen, wird das längerfristig auch Konsequenzen für die Schulwahl haben. Warum sollten Eltern, die nicht in Luxemburg geboren sind, ihre Kinder in die herkömmliche, dreisprachig angelegte Regelschule schicken – zumal wenn ihre Bildungschancen dort erheblich schlechter sind? Trotz aller Bildungsstudien und Beteuerungen von Politikern aller Couleur hat sich bis heute an der enormen sozialen Segregation in der öffentlichen Schule nichts grundlegend geändert. Wohl auch deshalb zählen zu den Interessenten und Nutzern des englischsprachigen Schulangebots viele Kinder portugiesischer Eltern. Englisch ist in Portugal die erste Fremdsprache, die Kinder in der Schule lernen.

Die Bildungspolitik muss aufpassen, dass sie keine widersprüchliche Signale aussendet: Einerseits betont Claude Meisch die Bedeutung von Französisch und Luxemburgisch von Kindesbeinen an für eine erfolgreiche schulische und berufliche Laufbahn im mehrsprachigen Luxemburg, andererseits baut er englischsprachige Parallelangebote in der Regelschule aus. Was plausibel vor dem Hintergrund einer sich rasant ändernden Bevölkerung erscheint, ist im Hinblick auf die soziale Wirkungsweise des Bildungssystems nicht unproblematisch: Werden Kinder einkommensstarker englischsprachiger Eltern, die nur ein paar Jahre für den Job hier stationiert sind, künftig in öffentlich finanzierten Schulen auf Englisch unterrichtet, um später als hochqualifizierte Eliten rund um den Globus Führungsetagen großer Unternehmen zu füllen? Während die zukünftigen Staatsbeamten im Classique ausgebildet werden und allen anderen nur der Technique bleibt? Wie stellt der Minister sicher, dass aus den ins Kraut schießenden Schul- und Sprachenangeboten eine kohärente faire Bildungslandschaft entsteht, die soziale Aufstiegschancen für alle bietet, ungeachtet der Herkunft und des Portemonnaies? Und die nicht neue Verwerfungen produziert?

Dass die große Vielfalt nicht uneingeschränkt auf Zustimmung stößt, sondern Argwohn und Ängste gerade bei alteingesessenen Luxemburgern auslöst, lässt sich nicht zuletzt an der viel Beifall findenden Unterschriftensammlung ablesen, die Luxemburgisch als erste Amtssprache einführen will. Als neues Unterscheidungsmerkmal, um sich von der zunehmenden mehrsprachigen Konkurrenz im eigenen Land abzugrenzen und nicht abgehängt zu werden.

Angesichts der politischen Brisanz wäre es wichtig, nicht einfach Fakten zu schaffen und neue Projekte und Programme in abgeschotteten Arbeitsgruppen auszutüfteln. Sondern rigoros offenzulegen, wie die bildungs- und sprachpolitische Vision für Luxemburg aussehen soll, wie sich französisch- und luxemburgischsprachige Immersion im Kindergarten, dreisprachige Regelschule und englischsprachige Schulangebote auf lange Sicht zusammenfügen oder ergänzen – und vor allem alle Bevölkerungsgruppen, Luxemburger und Nicht-Luxemburger, Arme und Reiche, Zivilgesellschaft und Wirtschaft und die politische Opposition, an einer landesweiten Bildungs- und Sprachdebatte zu beteiligen. Andernfalls steht zu befürchten, dass es in Zukunft viel mehr solcher Empörungs-E-Mails und Sprachpetitionen geben wird.

Ines Kurschat
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