An der Abneigung vieler Luxemburger gegenüber Französisch hat nicht zuletzt die Schule einen großen Anteil. Der Sprachunterricht gehört von Grund auf überdacht

Vreck, Franséisch!

d'Lëtzebuerger Land vom 30.09.2016

Sie können einem leidtun. Es „grault“ ihr vor dem Moment, wenn der Techniker ihre kaputte Waschmaschine reparieren komme. Dann müsse sie „den Dictionäer“ (sic) zur Hand nehmen, weil sie sonst die technischen Ausdrücke nicht verstehe, empörte sich die Frau im Facebook-Chat von Neiwahlen elo. Ein Grüner aus dem Süden, aufgeschreckt durch die Polemik um Petition Nummer 698, die eine Aufwertung von Luxemburgisch zur ersten Amtssprache fordert, räumt ein, sich nicht immer „hemmungslos op franséisch“ verständigen zu können. Und sich mit der Sprache „net wuel“ zu fühlen. So weit wie manche Kommentatoren von Neiwahlen elo, die Arbeitsplätze zuerst für Luxemburger fordern und mit Luxemburgisch fremdelnde Franzosen aus dem Land vertreiben wollen, ging er nicht.

Dass viele Landsleute sich mit Französisch schwertun, ist kein Geheimnis. Schon 1871, schrieb der Historiker Gilbert Trausch in einer 2001 veröffentlichten (inzwischen neu aufgelegten) Handreichung des Bildungsministeriums Le français dans le primaire, bezeichnete der stellvertretende Schulleiter des Athenäums den obligatorischen Französischunterricht als „camisole de force“, Zwangsjacke, für die jungen Luxemburger.

In der Pisa-Studie von 2009 wählten fast 80 Prozent der Schüler lieber Deutsch als Testsprache als Französisch. Im November 2015 bevorzugte die große Mehrheit, 73 Prozent, beim Mathetest der landesweiten Épreuves standardisées in der 9e deutsche Fragebögen, nur 18 Prozent machten den Test auf Französisch. Rechnet man die frankophonen Schüler heraus und berücksichtigt die Schultypen, waren es 81 Prozent der Classique-Schüler, die die Matheaufgaben lieber auf Deutsch bearbeiteten, obwohl die Unterrichtssprache ab der 7e Französisch ist. Das Ministerium hat nun ein deutsch-französisches Zahlenbuch herausgebracht. Einer Studie der Uni Luxemburg für den Europarat von 2007 zufolge würden 21 Prozent der Schüler mit Luxemburger Pass Französisch abwählen, gegenüber elf Prozent der nicht-luxemburgischen Schüler.

Fragt man nach den Ursachen für die Malaise mit der Sprache Voltaires und Sands, zeigen Sekundarschullehrer mit dem Finger auf die Grundschule. „Zu uns kommen Schüler, die haben in der 7e schon keine Lust mehr auf Französisch. So sehr wurde ihnen die Sprache vergällt“, schildert eine Französischlehrerin eines Lyzeums in der Hauptstadt das Problem. Im Gegenzug ist von Lehrern aus der Grundschule zu hören: „Eltern erwarten von uns, dass wir ihre Kinder auf die Sekundarstufe vorbereiten, am besten fürs Classique. Um dort zu bestehen, müssen sie ein bestimmtes Sprachniveau haben.“

Wie entscheidend Französisch für den schulischen Werdegang ist, lässt sich am Übergang zwischen Grundschule und Sekundarstufe ablesen. Studien belegen, dass sehr gute Leistungen in den Hauptfächern Deutsch, Mathe und Französisch Voraussetzung für eine Empfehlung ins Classique sind. Das Übergewicht der Épreuves standardisées veranlasste Minister Claude Meisch (DP) dazu, das Verfahren zu ändern und Klassenlehrern sowie Eltern mehr Verantwortung bei der Wahl des Schulzweigs zuzuweisen. Aber während Artikel über die „richtige“ Sprachenpolitik, Mehrsprachigkeit und den Stellenwert von Sprache in Schule und Berufswelt inzwischen viele Seiten füllen, gibt es bisher kaum Erkenntnisse darüber, was eigentlich im Unterricht geschieht. Genauer gesagt, im Französisch-Unterricht.

Im Zuge der Grundschulreform im Jahr 2009 wurde auch der Plan d’études generalüberholt. Er definiert Mindeststandards für den Sprachenunterricht, setzt fest, was Kinder in den verschiedenen Jahrgangszyklen können sollen. „Der Lehrplan ist ein Orientierungsrahmen. Er lässt genügend Gestaltungsspielraum für einen abwechslungsreichen Unterricht“, ist Grundschullehrer Robi Brachmond überzeugt. Der Beamte im Bildungsministerium hat den Plan d’études gemeinsam mit Kollegen ausgearbeitet. Dass die Mindestanforderungen zu hoch seien, lässt Brachmond nicht gelten: „Wir wollten mehr Kohärenz im Sprachenunterricht und haben uns dafür am Europäischen Referenzrahmen für Sprachen orientiert. Gleichzeitig geht es darum, unsere Schüler auf Französisch als Unterrichts- und Bildungssprache vorzubereiten. Französisch ist Verwaltungssprache, entsprechend gut müssen die Französischkenntnisse sein.“ Den neuen Inhalten waren lange Beratungen mit Lehrern und Inspektoren vorausgegangen, ein Professor der Universität Trier hatte die Entwicklung der Bildungsstandards begleitet.

Im Zuge der Lehrplanreform wurden auch die Schulbücher überholt. Doch wer sie durchblättert, wer sie mit Lehrmaterial aus Deutschland oder Frankreich vergleicht, wird den Eindruck nicht los, dass Französisch zu lernen, in hiesigen Schulen auch heute noch eine ziemlich dröge Angelegenheit sein muss. Zwar finden sich inzwischen auch Comic-zeichnungen in den Büchern und mit der Einführung des kompetenzbasierten Unterrichts kamen mehr Hörübungen hinzu. Aber normative Grammatik nimmt vor allem in den in Luxemburg produzierten Materialien nach wie vor einen großen Raum ein. Manche beinhalten schier endlose Tabellen von (un)regelmäßigen Verben; es gibt Aufgaben, die erschließen sich selbst für Erwachsene nur mit Mühe, weil sie Grammatik abstrakt abfragen, außerhalb jeglichen kommunikativen Kontextes.

Dass grammatikalische Fragen spannend sein können, zeigt ein Projekt an der Dellhéicht-Schule in Esch. In Zusammenarbeit mit der Sprachforscherin Constanze Weth von der Uni Luxemburg gestalten Lehrer den Sprachenunterricht entlang von Wortbausteinen. Mit bunten Legosteinen und durch Vergleiche mit anderen Sprachen werden Wortstellungen demonstriert und analysiert, lernen Schüler ein Bewusstsein für die französische, aber auch für andere Sprachen aufzubauen. Es lässt sich zum Beispiel zeigen, wie der gleiche Satz auf Luxemburgisch oder Französisch strukturiert ist. Das Bewusstsein für Satzstrukturen sei wichtig für die schriftliche Sprachentwicklung, so Weth. Eine Auswertung des Projekts fehlt noch, aber beteiligte Lehrer beobachten bei den Kindern Motivation und Spaß am Sprachenlernen.

Projekte wie dieses fördern nicht nur bei den Kleinen Offenheit gegenüber Sprachen und ihre Eigenheiten. Lehrer überdenken den eigenen Unterricht, manche entdecken, dass sie selbst Nachholbedarf in Wortbildung, Satzstellung und Kasus haben, bevor sie diese von ihren Kindern erwarten können. An der Uni wird der Grundschullehrer als Allrounder ausgebildet, obwohl kaum ein Land in der EU eine so komplexe Sprachensituation aufweist wie Luxemburg. Das zeigt sich nicht nur darin, dass sich Lehrer, Wissenschaftler, Politiker schwertun, die Mehrsprachigkeit und ihren Stellenwert in Schule und Gesellschaft präzise zu bestimmen: „Für manche Kinder ist Französisch die Muttersprache, für viele im Norden eine Fremdsprache und für viele Kinder im Süden eher eine Zweitsprache. Gleichzeitig ist sie als Unterrichtssprache in der Sekundarstufe vorgeschrieben“, beschreibt Constanze Weth die Komplexität. Pünktlich zur Rentrée erinnern Schulleitungen daran, im Unterricht ausschließlich die Langue véhiculaire, je nach Fach Deutsch oder Französisch, zu sprechen.

Während sich die Spracherwerbsforschung hierzulande allmählich etabliert, stecken Überlegungen für eine erfolgversprechende Didaktik und Methodik eines (mehrsprachigen) Sprachunterrichts noch in den Kinderschuhen. Grammatik kommt im Curriculum der Lehreranwärter vergleichsweise wenig vor. In der Ausbildung wird der „reflexive“ Lehrer angestrebt, aber eigene Spracherfahrungen zu hinterfragen, gemeinsam zu analysieren, wie ein erfolgreicher Sprachenunterricht aussehen kann, welche Fördermöglichkeiten für Kinder bestehen, die neben ihrer Muttersprache das ABC in einer Fremdsprache und gleich im Jahr darauf die nächste Fremdsprache lernen sollen, geschieht zu wenig systematisch. Es fehlen zudem Fachpublikationen. Positive Erfahrungen, vielversprechende Projekte und Ansätze riskieren so, verloren zu gehen, weil jeder Lehrer quasi bei Null anfängt.

Der Bildungsbericht 2015 der Uni Luxemburg zitiert nicht umsonst den bekannten Satz: „Teachers teach as they were taught, not as they were taught to teach.“ Lernen angehende Lehrer nicht, die herkömmliche Unterrichtsweise grundlegend zu hinterfragen und bekommen sie keine Zeit, keinen Raum und keine Unterstützung, um Alternativen zu entwickeln, droht am Ende die Wiederholung von Alt-Bekanntem.Und weiterhin Aversion gegen Französisch.

Das gilt nicht nur für Grundschullehrer. Sprachlehrer in der Sekundarstufe sind in der Regel hochspezialisierte Fachlehrer, die im Ausland mehrere Jahre französische Literatur oder Linguistik studiert haben, aber über Unterrichtsgestaltung und Fachdidaktik erst im Stage Grundkenntnisse erwerben. Später, am Lyzeum, unterrichten die allerwenigsten in Teams, überregionale Fachkonferenzen, wo sie sich mit Kollegen über Erfahrungen und Methoden austauschen können, sind selten. Kommt ein ausgewiesener Sprachexperte wie Michel Fayol, der am Mittwoch in Belval über die Voraussetzungen für eine gelungene Aneignung der französischen Schriftsprache referierte, sitzt im Saal oft nur eine kleine Schar Interessierter.

Geht es um neue Promotionskriterien, laufen Gewerkschaften und Lehrerkomitees Sturm gegen zu viel „Laxheit“, Sprachlehrer befürchten bei Stundenplandiskussionen rasch einen Bedeutungsverlust für ihr Fach. Als erstmals über differenzierte Sprachleistungsniveaus für den Technique nachgedacht wurde, war der Aufschrei groß. Dass Eltern der Regelschule nicht mehr zutrauen, ihre Kinder adäquat auszubilden und faire Bildungschancen zu bieten, zeigt sich daran, dass immer mehr Eltern Schulen wählen, die den Bac international auf Französisch oder Englisch anbieten. Die „Abstimmung mit den Füßen“ ist im vollen Gang – und trotzdem wird immer noch jede Reformidee des Nivellement vers le bas beschuldigt.

Die schärfsten Kritiken gegen grundlegende Reformen des Sprachunterrichts kam in der Vergangenheit meistens aus dem Classique, wohl auch, weil dort die Notwendigkeit, etwas ändern zu müssen, als nicht so dringend erlebt wird, denn die Klassen sind dort leistungshomogener. Es waren vor allem Sprachlehrer aus dem Classique, die sich gegen die Sekundarschulreform von Meischs Vorgängerin Mady Delvaux (LSAP) stemmten. Mit seiner Neuauflage der Reform würden erstmalig unterschiedliche Sprachleistungsniveaus auch im Classique möglich. Damit setzt sich ganz allmählich eine Analyse durch, die, wie Robi Brachmond verrät, schon im Kontext der Grundschulreform angedacht wurde: dass der „Equilinguismus“, das Ziel, drei Sprachen auf demselben Niveau perfekt sprechen und schreiben zu können, unrealistisch sei und zu Überforderung und Misserfolg führe, wie Sprachexperten seit Jahren mahnen. Der Europarat hatte in seinem Bericht von 2005 zur Sprachensituation in Luxemburg daher vorgeschlagen, Sprachen auf unterschiedlichen Leistungsstufen zu unterrichten und zu zertifizieren.

Man darf gespannt sein, welche Vorschläge die schulstufenübergreifende Arbeitsgruppe im Ministerium machen wird, die derzeit über Reformen für den Sprachunterricht berät. Im Moment versucht die Uni, für den Service de coordination de la recherche pédagogiques et technologiques (Script) in Expertengesprächen auszuloten, wie bisherige Reformen des Sprachunterrichts bei Theoretikern und Praktikern in Uni und Schule ankommen, sowie Ideen und Kritik zu sammeln. Ziel ist es, eine schlüssige Sprachenpolitik für die gesamte Bildungskarriere aufzubauen: von der Krippe bis zur Première.

Die von Minister Meisch angeschobene Frühförderung in Luxemburgisch und Französisch, die derzeit in acht Kindergärten im Land getestet wird, ist, so betrachtet, ein weiterer Versuch, das herkömmliche dreisprachige Schulsystem doch noch irgendwie zu retten, dem zunehmend die Klientel abhandenkommt. Indem der Staat Krippen subventioniert, die Luxemburgisch und Französisch als Umgangssprachen anbieten, wird versucht, luxemburgischsprachige (Klein-)Kinder spielerisch an Französisch und nicht-luxemburgischsprachige (Klein-)Kinder an Luxemburgisch heranzuführen. Ironischerweise wird diese Idee von Unterzeichnern der Luxemburgisch-Petition aber eben nicht als Hilfestellung verstanden, den Weg durch die Schule und zu höheren Bildungsweihen allgemein zu erleichtern. Sondern vielmehr als Versuch, gebürtigen Luxemburgern durch eine „integrasion emgedreit“ (sic), Französisch aufzuzwingen.

Ines Kurschat
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