„Indésirables“ aus Übersee – Migrant/innen in Luxemburg am Anfang des 20. Jahrhunderts (2)

Tsan von den Kuomintang

d'Lëtzebuerger Land vom 16.06.2023

Mit der Serie „Indésirables“, werden nicht nur Lebensgeschichten von Migrant/innen aus Übersee erzählt, sondern auch Luxemburgs Verflechtungsgeschichte dargestellt. Diese ist, genauso wie die Wege der Migrant/innen, nicht immer linear, sondern zum Beispiel mit der Geschichte anderer europäischer Staaten verbunden. Verflechtungsgeschichte ist meines Erachtens auch in Bezug auf die gesellschaftliche Debatte zu Migration wichtig, da damit zwischenstaatliche, historische Verbindungen in ihrer Vielfältigkeit aufgezeigt werden können.

Obwohl ein Teil dieser Lebensgeschichten als Kurzprosa aufgearbeitet sind – mit der vielleicht ein breiteres Publikum erreicht werden kann – basieren sie auf historischen Quellen, vor allem auf Dokumenten der Fremdenpolizei des frühen 20. Jahrhunderts. Die Quellenlage ist also geprägt von einem konflikthaften Verhältnis zwischen dem Staat Luxemburg und den überseeischen Migrant/innen, deren Lebensgeschichten hier erzählt werden.

Im zweiten Teil dieser Serie spielt sich dieser Konflikt am Ende der 1920-er Jahre ab, einer Zeit, die nicht nur stark von faschistischen Bewegungen, sondern auch vom Konflikt zwischen sozialistischen und kommunistischen Bewegungen, sowie der Angst europäischer Staaten vor letzteren geprägt war. Tsan Weiming, ein chinesischer Migrant und Arbeiter, war Teil der kommunistischen Bewegung.

Kommunisten I – „Proletarier aller Länder…“

Tsan Weiming (geb. Szechuan/China 1900, in Esch/Alzette 1929)

Am 1. Mai 1930 auf der Demonstration der Kommunisten: Mir ist ein bisschen kalt und es sind, im Verhältnis zu den Flics, die uns hier am Brillplatz überwachen, nicht sehr viele Leute hier. Der Umzug der Sozialdemokraten scheint viel größer zu sein. Auch wenn es hier nicht wie in China zu bewaffneten Kämpfen kommt haben uns auch in Esch die Sozialdemokraten verraten. So sind zumindest alle die hier sind meine Genossen. Da sehe ich Giuseppe. Er arbeitet mit mir im Stahlwerk in Differdingen. Ich bin dort recht gut angesehen, weil ich gut und zuverlässig arbeite. „Freundschaft“, sagt er und ich grüße zurück. „Wie geht es deiner Frau?“ fragt er mich. „Sie ist wieder zurück nach Belgien“, antworte ich und muss gleich an sie denken, an Desirée.

Wir haben uns vor ungefähr fünf Jahren in Paris kennen gelernt. Damals lebte sie noch mit ihrem Mann zusammen und war erst kurz verheiratet. Ich glaube es hat ihr, als wir uns kennenlernten, imponiert, dass ich nicht wie all ihre anderen Bekannten und Freunde aus Paris kam, sondern aus dem Fernen Osten. Sie war sehr mutig, als sie dann mit mir durchgebrannt ist. Nachdem ich als Kommunist aus Frankreich ausgewiesen wurde, gingen wir nach Brüssel. Eigentlich wollten wir bleiben, aber weil ich mich auch dort mit wichtigen internationalen Kommunisten traf, wurde ich auch bald wieder ausgewiesen. Das war natürlich nicht nur hart für mich, sondern auch für Desirée. Sie wollte nach Deutschland. Nach einem halben Jahr in Esch wurde es ihr dann doch zu viel. In Brüssel hatte sie als Verkäuferin gearbeitet, doch hier konnte sie einfach nichts finden.

Ich will mit Giuseppe nicht über Desirée reden und versuche das Thema zu wechseln: „Du bist doch in Brasilien geboren?“ Er nickt. „Was sagst du zu der Präsidentschaftswahl?“, frage ich ihn, obwohl ich nicht viel darüber weiß. Brasilien ist kein so großes Thema in der internationalen Presse, wie China. Aber er weiß Bescheid und er erzählt mir davon, wie die politische Macht immer wieder von der einen zu der anderen Oligarchie wechselt und von dem Einfluss des ausländischen Kapitals, wie es immer mehr gewinnt, während die Massen durch die Finger schauen. „Das ist ja fast so, wie bei uns!“, rufe ich aus. „Wir haben Bürgerkrieg, weil die Imperialisten die unterschiedlichen revolutionären Gruppen gegeneinander aufhetzen. Es ist immer dasselbe: In Indien, in Indonesien, in den arabischen Ländern und in Lateinamerika wird die nationale Bourgeoisie zum Komplizen der imperialistischen Mächte in der Unterdrückung der revolutionären Massen. Und hier ist es nicht anders! Das ausländische Joch, beutet uns hier und dort aus.“ Ich denke dabei daran, wie wir, die chinesischen Arbeiter, aber auch Menschen aus vielen anderen Ländern, dazu benutzt wurden, Frankreich nach dem großen Krieg wiederaufzubauen. Ich denke an die schlechten Arbeitsbedingungen in China und in Europa. „Die Epoche imperialer und kolonialer Ausbeutung wird zu Ende gehen! Für die Befreiung der geknechteten Völker aller Länder!“, ruft Giuseppe und ist ganz aufgebracht. Ich merke, dass er nicht mehr ganz nüchtern ist und versuche ihn zu beruhigen, denn wir werden von den Flics beobachtet. „Das wird sicher Probleme geben“, denke ich und wir gehen ein Stück schweigend weiter.

Chinesischer Antiimperialismus in Luxemburgs Zwischenkriegszeit

Nachdem Tsan Weiming am Aufmarsch am 1. Mai 1930 beobachtet wurde, bekam er einen Ausweisungsbescheid. Er erhob Einspruch und versuchte zumindest etwas länger zu bleiben. Schließlich musste er jedoch im Juni desselben Jahres ausreisen. Laut Fremdenpolizei ging er zurück nach China, um seine Studien zu beenden. Das ist durchaus möglich, denn Frankreich hatte im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Ersten Weltkrieg Arbeiter/innen aus den Kolonien und aus China geholt, die dann in verschiedenen Industrien unter schlechten Arbeitsbedingungen arbeiten mussten. Gerade unter den chinesischen Migranten/innen gab es einige, die auch zum Studieren kamen. Proteste unter den chinesischen Arbeiter/innen waren keine Seltenheit und auch politische Parteisektionen wurden gegründet – 1922 die französische Sektion der Kommunistischen Partei Chinas in Paris und 1923 der Kuomintang in Lyon – was den chinesischen Arbeiter/innen den Ruf eine Gefahr zu sein einbrachte.1

Tsan kam vermutlich 1922 mit 22 Jahren nach Frankreich. In den Dokumenten der luxemburgischen Fremdenpolizei wird er als Mitglied der Kuomintang und als Kommunist bezeichnet. Auch wenn die Kuomintang heute die Opposition der Kommunistischen Partei Chinas ist, war dieses Verhältnis in den 1920-er Jahren komplexer: Bis 1927 arbeiteten beide Parteien unter dem Einfluss der Sowjetunion und internationalen kommunistischen Organisationen als Einheitsfront zusammen, sodass einige der Mitglieder der Kommunistischen Partei auch in der Kuomintang waren. Schließlich war zu dieser Zeit der Kampf gegen den europäischen und japanischen Imperialismus das wichtigste Ziel beider Parteien. Denn selbst wenn China nie zu einer klassischen Kolonie geworden war, hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der ausländische Einfluss, vor allem Englands, der Vereinigten Staaten und Japans, massiv verstärkt. In der Provinz Szechuan, in der Tsan geboren war, war es dabei vor allem um Mienen- und Eisenbahnkonzessionen, sowie um den Handel im Allgemeinen gegangen.2 Im chinesischen Bürgerkrieg (1927-1949), der mit dem Sieg der Kommunisten und der Ausrufung der Volksrepublik China endete, brachen die internen Konflikte dieser Einheitsfront schließlich offen aus.

Abgesehen von der Klassifizierung Tsans als Kuomintang-Mitglied durch die luxemburgische Fremdenpolizei weist alles darauf hin, dass er vor allem Kommunist war. So nahm er 1928 in Belgien an einem Treffen europäischer Kommunisten teil, an dem sich zum Beispiel auch der französische Anwalt Robert Fossin (1896-1955), der deutsche Otto Bachmann (1901-1977) und der englische George Hardy (1884-1966) beteiligten.3 In einem anderen Dokument wird behauptet er lese die Zeitung Communiste Internationale und sei Mitglieder der Liga gegen den Imperialismus. Diese Organisation wurde 1927 unter anderem auf Initiative chinesischer Kommunisten und der Kommunistischen Internationale in Brüssel gegründet und inkludierte berühmte Persönlichkeiten, wie Albert Einstein (1879-1955), Jawaharlal Nehru (1889-1964), sowie Soong Ching-ling (1893-1981), die Frau des verstorbenen Kuomintang-Gründers Sun Yat-sen (1866-1825). In den 1920-er Jahren hielten sich einige Antiimperialist/innen aus dem globalen Süden immer wieder für längere Zeiträume in Europa auf und nahmen an diesen Treffen teil.4 Der Konflikt in China war zu einem der wichtigsten Themen der internationalen sozialistischen und kommunistischen Bewegungen geworden und so wirkte das Ausbrechen des chinesischen Bürgerkriegs im Laufe des Jahres 1927 auch auf diese ein. Schließlich waren auch in Europa die kommunistischen und sozialdemokratischen Organisationen tief gespalten, was sich auch am 1. Mai in Esch/Alzette zeigte.5

Die Repression vor allem ausländischer Kommunist/innen auf Staatsebene zeigt sich nicht nur durch die Ausweisungen die Tsan erlitt, der schließlich lediglich aufgrund seiner Teilnahme an der Demonstration am 1. Mai 1930 aus Luxemburg ausgewiesen wurde, sondern auch an den Informationen der Fremdenpolizei über Giuseppe Biscaro (geb. Botucatu/Brasilien 1897), sowie einer Menge anderer Migrant/innen. Biscaro war, wie ein paar andere Einwanderer, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Luxemburg finden lassen, zwar in Brasilien geboren, besaß aber die italienische Staatsbürgerschaft. Er kam ab 1925 immer wieder in den Süden Luxemburgs und arbeitete dort hauptsächlich in der Stahlindustrie und als Bergarbeiter. Laut seinem Fremdendossier hatte „er in den Jahren 1929 und 1930 an allen antifaschistischen und kommunistischen Manifestationen, die sich im Erzbecken abspielten“ teilgenommen.6 Wie Tsan scheint er in der internationalen kommunistischen Bewegung aktiv gewesen zu sein und wurde deswegen sowohl aus Belgien, wie auch aus Frankreich und Luxemburg ausgewiesen. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Tsan und Biscaro sich tatsächlich kannten.

Über Desirée Grueber wissen wir, dass sie, nachdem sie im Dezember 1929 nach Belgien zurück ging, etwas später mit einem jugoslawischen Mann in Antwerpen zusammenlebte. Ansonsten wissen wir, dass sie 1971 in Paris starb. Von einer Scheidung von ihrem Mann lässt sich in den Dokumenten nichts finden.

Julia Harnoncourt forscht zu zeitgenössischer Geschichte am C2DH

1 Nivet, Philippe (2012): Les travailleurs „chinois“ dans le contexte de la reconstruction. In: Li Ma (Hg.): Les travailleurs chinois en France dans la Première Guerre mondiale. Paris: CNRS éditions, 203–223; Liu, Kaixuan; Bi, Wenrui (2023): Apprendre le marxisme à Paris : les étudiants communistes chinois en France (1919-1925). In: Jean-Numa Ducange und Antony Burlaud (Hg.): Marx, a French Passion. The Reception of Marx and Marxisms in France‘s Political-Intellectual Life. Leiden, Boston: Brill, 330–338.
2 Li, Danke (2004): Popular Culture in the Making of Anti-Imperialist and Nationalist Sentiments in Sichuan. In: Modern China 30 (4), 470–505.
3 Vreemdelingenpolitie: Tsan Weiming. Archives générales du Royaume (Belg.), 1.527.065.
4 Petersson, Fredrik (2012): Hub of the Anti-Imperialist Movement. In: Interventions 16 (1), 49–71.
5 Die gestrigen Maifeiern (1930). In: Escher Tageblatt 131, 02.05.1930, 3–4.
6 ANLux, J-108-0307372, Biscaro Joseph / Giuseppe, 1925-1934.

Julia Harnoncourt
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