Heute loben wir die Rückkehr zum einfachen Leben. Was ist ein „Centre de rétention“? Eine Bezeichnung mit Tippfehler, „r“ statt „d“ ? Vielleicht hilft uns die Übersetzung „Rückhaltezentrum“. Sie klingt zwar genau so barbarisch wie die französische Fassung, aber immerhin erlaubt sie uns die entscheidende Frage: Warum und wovon sollen die Insassen eines Rückhaltezentrums zurückgehalten werden? Nehmen wir die Antwort doch gleich vorweg: vor den schädlichen Einflüssen einer Gesellschaft außer Rand und Band.
Die Architektur des Rückhaltezentrums sei katastrophal, hören wir, ein Armutszeugnis für unser reiches Land. Gezielte Enge und gewollte Schmucklosigkeit, nicht eine einzige Bank auf dem schäbig asphaltierten Hof, im Innern nur kleine Räume mit dem Charme von Besenkammern, kein Lichtblick weit und breit. Nun, da unsere Regierung sich unter Anleitung ihres Chefs aufs systematische Lügen festgelegt hat, wollen wir unsere Bürgerrechte wahrnehmen und munter zurücklügen, was das Zeug hält. Die nun folgende, faustdicke Lüge schenken wir unseren wackeren Ministern, sozusagen als Dank für ihre Bemühungen, uns ständig hinters Licht zu führen.
Betrachten wir die Geschichte doch mal mit Ministeraugen. Im Rückhaltezentrum sollen Menschen leben, die sich zum Nomadentum bekennen. Diese Weltanschauung ist ihr gutes Recht. Wir wissen also von vorneherein, dass es diese Menschen nie lange hält am gleichen Ort. Sie möchten unbedingt nach kurzer Zeit weiterreisen, wir kommen ihnen freundlichst entgegen und ersparen ihnen die langen Abfahrtsstrecken. Das Leben in unmittelbarer Nähe eines Flughafens hat nur Vorteile. Hier trifft sich die Welt, hier kreuzen sich die Nationen, hier dröhnt der technische Fortschritt. Ganz zu schweigen vom Alltag im permanenten Kerosinduft: dieses charaktervolle Parfüm mögen Nomaden am liebsten. Sie sind sozusagen süchtig nach ihrer täglichen Kerosindosis. Das verleiht ihnen Flügel und erklärt, warum einige von ihnen so wild auf Charterflüge sind.
Kommen wir zur gescholtenen Architektur. Herr Le Corbusier hätte seine helle Freude an den elementaren Strukturen. Loben wir doch bitte den Mut, endlich zu brechen mit unserer aufwändigen, höchst pompösen Bauphilosophie. Wie hätten wir das Rückhaltezentrum denn gestalten sollen? Etwa so wie den neuen Justizpalast, dieses Monster aus Ornamenten und maßlosem Kitsch? Wäre es nicht eine Beleidigung der Rückhaltezentrumsbewohner, sie in ein derart barockes Kabuff zu sperren? Ja, gewiss, unter den Nomaden sind auch Richter und Rechtsanwälte, das vergessen wir nur allzu schnell, aber sie lebten zuvor fast ausnahmslos in bescheidenen Hütten und fühlen sich zutiefst provoziert von unseren architektonischen Übertreibungsreflexen. Ihre provisorische Bleibe am Flughafen hat den Verdienst, klar und übersichtlich und ökologisch vertretbar zu sein. Sie fördert den Hang zur klösterlichen Existenz, den freiwilligen Verzicht auf die perversen Annehmlichkeiten unserer maroden Lebensweise.
Wer, wenn nicht die Nomaden, könnte uns denn die neue Bescheidenheit lehren? Die zurückgeschraubten Erwartungen, die Wiederentdeckung des Wesentlichen, die kreative Besonnenheit? Diese Menschen betrachten wir als Pioniere, wir nehmen sie freiwillig auf, damit sie zu unser aller Gunsten ein Exempel statuieren. Das Rückhaltezentrum ist ein Modell, ausgerichtet auf die Zukunft der Menschheit. Wer diese Architektur spartanisch nennt, hat nichts begriffen. Es geht hier um eine neue Lebensform, befreit von allen Zwängen der Konsumgesellschaft. Keine Bank auf dem schlichten Hof? Das scheint auf den ersten Blick paradox in einem Land, wo die Banken an jeder Straßenecke sprießen. Aber nur auf den ersten Blick. Denn diese eingewanderten Nomaden bemühen sich ja nicht in unsere Gefilde, um Althergebrachtes und Eingebürgertes einfach zu übernehmen. Sie möchten uns zeigen, dass es auch anders geht. Wir unterstützen sie bei ihrer edlen Mission.
Wir sollten auch nicht leichtfertig behaupten, diese Menschen seien eingesperrt. Wir erlauben ihnen, in einem geschützten Raum ihre Eigenart auszuleben. Sie verzichten von sich aus auf das Allermeiste, sogar auf Papiere. Sie wollen nicht in unseren europäischen Schlamassel hineingezogen werden. Warum sollten wir sie zwingen, tagaus tagein durchs offene Tor hinauszuspazieren in unser elendes, korruptes Gesellschaftssystem? Warum sollten sie Gefahr laufen, sich anzustecken mit unseren Absonderlichkeiten? Außerdem sollten wir diese bewundernswert gleichmütigen Nomaden nicht brüskieren. Wer immer wieder die prekären Lebensbedingungen wählt, riskiert den Herzinfarkt, wenn wir ihn plötzlich mit unserem Luxus überschütten.
Würden alle Menschen so leben wie wir Luxemburger, hören wir, bräuchten wir sieben Planeten, um die rasenden Bedürfnisse zu befriedigen. Die lieben Nomaden verzichten von sich aus auf die fehlenden sechs Planeten. Das loben wir und danken herzlich, dass sie immer mal wieder kurz bei uns vorbeischauen.