„Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville Change plus vite, hélas ! que le cœur d’un mortel“, dichtete Baudelaire im 19. Jahrhundert, als Napoleon III. den Präfekten und Stadtplaner Haussmann damit beauftragte, der französischen Hauptstadt gewaltsam das moderne Stadtbild zu verleihen, das bis heute erhalten ist. Es ging dem selbsternannten Franzosenkaiser dabei um die Erneuerung einer teilweise noch durch mittelalterliche Enge geprägten Stadt nach englischem Vorbild, um Prestige und um Kontrolle. Darum, durch breite Avenuen Barrikadenkämpfe wie die von 1830 und 1848 in Zukunft zu verhindern und im Notfall Truppen schnell aus den über die Stadt verteilten Kasernen hin- und her bewegen zu können. Diese „Haussmannisierung“ steht aber auch für eine beispiellose soziale Bereinigung der Stadt von ärmeren Schichten, die durch Enteignungsgesetze in die maroden Vorstädte verbannt wurden – damit der Staat durch den Verkauf der Parzellen an Investoren seine Kreditaufnahme refinanzieren konnte.
Im Vergleich dazu schreitet die Umwandlung von Stadtvierteln und der Austausch ihrer Bevölkerungen heutzutage auf weit sanftere, aber nicht minder effektivere Art voran. Auf der Suche nach Sicherheit investieren finanzkräftige Konglomerate aus der ganzen Welt in Europas Innenstädte, treiben die Mieten in die Höhe und historisch gewachsene Gemeinschaften aufs offene Feld. Kultur und bauliches Erbe, das sind in erster Linie Vermögenswerte. Und entspricht es mal nicht den gängigen Vorstellungen von Schönheit oder Wert, lässt man es einfach verrotten, um es früher oder später dem Erdboden gleichzumachen. Im Extremfall, wie beim Brand im Londoner Grenfell Tower, kommen vorher auch noch Menschen zu Schaden. Erinnerung, Stadtgeschichte – all das zählt nicht, wenn sich durch einen Neubau der Wert um ein Vielfaches multiplizieren und eine zahlungskräftigere Klientel ins Viertel locken lässt, die auch in den kommenden Jahren für gute Rendite sorgt. Manchmal, wie im Fall der Stäreplaz, vergehen bis dahin auch Jahrzehnte.
Da hilft es nicht, den Neubau als Nullenergiehaus mit ausgeglichener Energiebilanz anzupreisen und entsprechende Zertifikate einzusammeln. Da der Gesetzgeber vielerorts dem Neubau den Vorrang vor der Renovierung gibt, ist allein die Bauindustrie „für rund 38 Prozent des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich“, wie Arno Brandlhuber, Architekt und Professor an der ETH Zürich, vergangenen Mittwoch vor rund 300 Zuhörern im Limpertsberger Tramsschapp erklärte. Genau hier will die europäische Bürgerinitiative House Europe! die Axt anlegen. „Abriss“ sei so out „wie Lebensmittelverschwendung, Fast Fashion oder Einwegplastik“, argumentieren die Initiatoren in einem eigens dafür produzierten Dokumentarfilm. Renovieren, nicht demolieren lautet ihre Devise. Renovieren schütze Wohnraum, Jobs, Energie und Geschichte. „Renovieren hilft Preise stabil zu halten, Bewohner können in ihren Wohnungen bleiben und werden nicht vertrieben“, erklärt eine Frauenstimme aus dem Off. Wohnviertel behielten ihre „Identität“ und Gemeinschaften blieben „lebendig“. Renovieren unterstütze kleinere Betriebe. So finde eine Verschiebung des Marktes statt: weg von den Baustoffen, hin zur Arbeit.
Vor allem spare Renovieren Energie, indem Bau-
stoffe nicht verschwendet würden. CO2-Emissionen und Ressourcenverbrauch könnten so deutlich verringert werden. Deshalb setze sich House Europe! für eine Anpassung des gesetzlichen Rahmens auf EU-Ebene ein. Mit einer Mehrwertsteuersenkung auf nachhaltige Renovierungsarbeiten und wiederverwertetem Material. Aber auch für fairere Spielregeln. Mit Gutachten sollen künftig weniger die Risiken als vielmehr das Potenzial von bestehenden Gebäuden festgestellt und über die investierte „graue Energie“ (also bereits verbautes und zur Renovierung erforderliches CO2), genau Buch geführt werden. „Die EU hat die Macht, das Renovieren kostengünstiger, schneller und einfacher zu gestalten“, sagen die Initiatoren, die auf der Suche nach einer Million Unterschriften derzeit durch die EU touren und auf Einladung der Abteilung Architektur der Uni Luxemburg und des Luxembourg Center for Architecture (Luca) in der Hauptstadt Halt machten.
So weit, so gut. Aber inwiefern lassen sich die Forderungen von House Europe! auf Luxemburg übertragen? Und muss es unbedingt Europa richten? Muss man gleich die EU heranziehen, die ja gerne als sadistische Regulierungsinstanz dargestellt wird und nach Auffassung vieler Rechter, neuerdings auch aus den USA, am besten abgeschafft gehört? Ließe sich vieles davon nicht besser auf nationalem Plan angehen als mit EU-weiten Verordnungen? Zumal bei der Renovierung von bestehenden Gebäuden auch auf die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen in Europa geachtet werden muss und sich die erforderlichen Maßnahmen von Region zu Region zum Teil erheblich unterscheiden.
Luxemburg zählt im europäischen Vergleich wenig Wohnsilos. Das Einfamilienhaus ist nach wie vor vielen Menschen heilig. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Luxemburg aber in Fragen der energetischen Sanierung auch Vorreiter. Die Stadt Wien beispielsweise hat einen Mietdeckel für Altbauwohnungen eingeführt. Resultat? Die Eigentümer investieren nicht mehr. Immobilien verfallen oder werden abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Hierzulande liegt der Mehrwertsteuersatz für Renovierungsarbeiten bereits bei drei Prozent und vieles, was mit Kreislaufwirtschaft zusammenhängt, wird vom Staat gefördert. Wer seinen Altbau durch neue Fenster sanieren will und dafür Gelder beantragt, muss (um Schimmel vorzubeugen) automatisch die Fassade mitdämmen oder ein automatisches Be- und Entlüftungssystem einplanen. Der Staat vergibt Gütesiegel und Prämien für die Verwendung von mineralischen Materialen wie Steinwolle und den Verzicht auf EPS-Dämmplatten. Luxemburg ist das Land, in dem zahlungskräftige Lehrerpaare immer noch 200 Jahre alte Landwirtschaftsanwesen komplett energetisch sanieren, oder wo Gemeinden Biogasanlagen errichten, für die Hecken nachträglich angepflanzt werden müssen, um sie mit dem nötigen Grünschnitt zu versorgen. Manchmal ist Luxemburg auch zu musterschülerhaft.
Vor allem aber wird Renovieren in Luxemburg tendenziell nicht billiger als ein Neubau. Was wiederum die Frage aufwirft, wer dafür bezahlen und wer in den sanierten Wohnungen leben soll – im Kontext der akuten Wohnungsknappheit ist diese Frage umso dringlicher. Aber selbst der Wunsch nach einem architektonisch anspruchsvollen Neubau wird ja hierzulande durch die astronomischen Grundstückspreise zunichte gemacht. Weshalb auch immer mehr im Volksmund als „Kisten“ bezeichnete Energiehäuser das tradierte Dorfbild beanspruchen. Worüber sich zu Recht oder Unrecht erboste Senioren in Facebook-Gruppen auslassen, teilweise, um mit populärwissenschaftlichen Argumenten eine Rückkehr zur sogenannten „schönen“ Architektur zu fordern, wie sie auch in rechten Kreisen beschworen wird (d’Land 25.11.2022). „Uns macht es fassungslos, wieviel in den letzten 50 Jahren an Bestand abgerissen wurde und was da an Landschaften, an grauer Energie, an Ressourcen und an Geschichten verloren ging“, klagt Moderator Florian Hertweck, Architekturprofessor an der Uni.lu, während der Konferenz. „Es fehlt uns an Feingefühl beim Vernichten“, formuliert Architekt Christian Bauer (CBA Architectes) es aus dem Publikum. Und an klaren Selektionskriterien bei der Frage, was es zu erhalten gibt.
Nicht zufällig erkennt Hertweck in dem Verweis auf den Verlust von Identität und Geschichte durch Abriss und Neubau ein „Narrativ“, mit dem auch Wertkonservative – sprich das Mitte-RechtsBündnis EVP in Straßburg – von der Initiative überzeugt werden können. Auch im Tramsschapp hatten die Veranstalter darauf Wert gelegt, neben einem Dutzend Partnerorganisationen wie CNCI, Mouvement écologique und OAI, mitgliedstarke Denkmalschutzorganisationen wie Luxembourg under destruction oder die Lëtzebuerger Denkmalschutz Federatioun einzuladen. Dabei war der Saal zur Hälfte von Architekten besetzt, wie eine schnelle Umfrage von Hertweck ergab. „Wer von uns Architekten reißt sich schon um eine Renovierung?“, bemerkte Brandlhuber en passant. Renovierungsarbeiten verlangen dem Architekten nicht nur gestalterische Zurückhaltung ab, sie sind auch mit vielen Auflagen verbunden. Auf den Baustellen ist die Zahl derer, die nicht direkt für den Bau verantwortlich sind, in den vergangen Jahren deutlich gestiegen. Der seit Corona und Ukrainekrieg durch verzögerte Zahlungen, Leerstand und hohe Energiepreise gebeutelten Architektenzunft versprach Brandlhuber „zehnmal mehr Aufträge“, sollte die Initiative Erfolg haben.
In einer anschließenden Gesprächsrunde offenbarte Architekt Philippe Nathan (2001) seine „Angst vor dem Konservativen in Luxemburg“, sprach aber vorsichtig von einem „neuen Moment“, den die Bürgerinitiative House Europe! einläuten könnte und womit vergangene „Traumata überwunden“ werden könnten. Man müsse die „financially driven decisions of politicians“ angehen, so Arno Brandlhuber. Mit Verweis auf Leerstand und Wohnungsnot in Luxemnburg gab sich Blanche Weber vom Mouvement écologique „überzeugt“ davon, „dass wir das zu einem politischen Thema machen können“. Die Zeit dafür sei nun einfach „reif“. Paul Ewen von der Lëtzebuerger Denkmalschutz Federatioun zeigte sich ebenfalls erfreut über die Initiative, berichtete von „politischem Druck“ seitens der „Politik“ und der „Bauwirtschaft“ auf leerstandsmelder.lu, aber auch von „sehr großem Schaden“, den Energielabel in Luxemburg angerichtet hätten. Der Psychotherapeut geht von 180 000 Wohneinheiten in ganz Luxemburg aus, wovon seiner Auffassung nach 21 000 „erhaltenswert“ sind.
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