Premier Jean-Claude Juncker hatte am 13. Juni zu viel versprochen. Damals, als das Parlament über ein Misstrauensvotum gegen seinen Parteikollegen Luc Frieden diskutierte, hatte er für die bevorstehende Debatte über den Bericht des parlamentarischen Ermittlungsausschusses angekündigt: „Ich will heute schon sagen, dass ich mich meiner politischen Verantwortung nicht entziehen werde. Ich finde niemand anders, der dafür verantwortlich gemacht werden kann. Und wenn das Parlament der Meinung ist, zum gegebenen Zeitpunkt, ich hätte da Sachen nicht richtig gemacht, ich hätte mich schuldig gemacht, ich wäre Schuld für vieles, das da nicht geklappt hat. Ja, dann muss daraus die politische Schlussfolgerung gezogen werden, die normalerweise in einem solchen Fall gezogen wird. Ich laufe vor meiner Verantwortung in dieser Sache nicht fort. Und wenn es so weit ist, dann stelle ich mich dieser Verantwortung.“ Doch vier Wochen später, als das Parlament am Mittwoch über den Ausschussbericht diskutierte, vermittelte Juncker eher den Eindruck, als ob er vor seiner Verantwortung fortlaufen wollte. Der Gesinnungswechsel war absehbar. Denn zwischen dem 13. Juni und dem 10. Juli hatte der Wahlkampf begonnen. Juncker kann nicht gut mit dem Eingeständnis in den Wahlkampf ziehen, dass er nicht ganz zu Unrecht gestürzt worden sei. Wer käme dann noch auf die Idee, ihn erneut zu wählen? Also versuchte Juncker zwei Stunden lang, am Beispiel ausgewählter Punkte zu erklären, dass er keine Fehler gemacht habe, dass alles auf Missverständnisse beruhe, dass ihm Agenten, Parlamentarier und wer weiß noch alles Berichte, Sitzungsprotokolle, Aufnahmen vorenthalten hätten. Er brachte ehemalige Minister, wie Henri Grethen (DP), Charles Goerens (DP) und Jeannot Krecké (LSAP) ins Spiel, um seine politische Verantwortung großzügig mit anderen Parteien zu teilen. Am Ende verzauberte er sogar eine Spionageakte Pierre Werners (CSV) in eine Spionageakte Gaston Thorns (DP). CSV-Fraktionssprecher Gilles Roth bemühte sich verbissen, alle Schuld auf den parlamentarischen Kontrollausschuss abzuwälzen. Der hatte sich so lange aus parteipolitischer und aus Staatsräson zu Junckers Komplizen gemacht und bekam es nun denkbar schlecht gedankt. Die Fehler, die Juncker schließlich zugab, waren keine richtigen, sondern in Wirklichkeit christliche Tugenden. Vertrauen: „Ich habe Marco Mille vertraut“, dem ehemaligen Nachrichtendienstdirektor. „Ich ändere mich nicht, ganz gleich auch, was ich noch in meinem späteren Leben tun werde.“ Aufopferungssinn: Im Interesse der Staatssicherheit habe er keine Disziplinarmaßnahmen gegen seine treulosen Agenten unternommen, woraus ihm nun ein Strick gedreht werde. Gutgläubigkeit: Er habe nicht überprüft, ob seine Anweisungen auch tatsächlich ausgeführt worden seien, schließlich seien seine Beamten dafür „gut bezahlt worden“. Statt, wie vier Wochen zuvor versprochen, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass er Untaten seines Geheimdienstes duldete oder vertuschte, schlüpfte er in die Rolle des Opfers, das gerade schmählich verraten wurde: „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ausgerechnet die sozialistische Partei mir ein Bein stellt. Das hätte ich mir in 25 Jahren Zusammenarbeit nicht vorstellen können.“ Doch wie soll politische Verantwortung in der Praxis aussehen? Gast Gibéryen (ADR) warnte: „Es genügt nicht, zu sagen, ‚ich übernehme die politische Verantwortung’, und dann fahren wir weiter wie bisher.“ Doch selten wurde eine Regierung so leidenschaftslos gestürzt wie am Mittwoch auf dem Krautmarkt. Gewissenhaft sagten alle Redner ihre Lektion aus dem Bericht des Ermittlungsausschusses auf, aber sie waren nicht mit dem Herzen dabei. Denn es ging längst nicht mehr um den Geheimdienst, sondern um den Sturz des Regierungschefs. Dieser hatte die Jacke ausgezogen, den Kopf zur Seite geneigt, und ließ alles über sich ergehen. So warteten er und die gesamte Kammer sieben Stunden lang nur den Augenblick ab, da Serge Urbany (déi Lénk) als Letzter das Rednerpult verließ, damit der Premier der Abstimmung über die Misstrauensmotionen zuvorkommen konnte, indem er den Rücktritt seiner Regierung ankündigte. Aber die Leidenschaft fehlte nicht bloß, weil das Ergebnis der Debatten seit Tagen abgemacht war. Auch wenn manche in der CSV bis zum letzten Augenblick zu erwarten schienen, dass sie die LSAP doch noch umgestimmt bekämen. Selbst die politischen Gegner, die von der Notwendigkeit von Junckers Rücktritts überzeugt waren, verzichteten darauf, wie in solchen Fällen üblich, den Ton zu heben, Vorwürfe gegen ihn aufzutürmen und die Vergehen des Premiers zu dramatisieren, bis sein Rücktritt Stadt und Land unvermeidlich erschien. Nur Félix Brax (Grüne) störte einen Augenblick die gedämpfte Atmosphäre, als er den Premier anrempelte und ihm „Perfidie“ vorwarf, weil Juncker, „wohl als Beschäftigungstherapie“ beim parlamentarischen Kontrollausschuss einen Bericht über die Funktionsweise des Nachrichtendienstes in Auftrag gegeben habe, ohne die Abgeordneten informiert zu haben, dass im Dienst alles drunter und drüber ging. Irgendwie schienen die meisten Abgeordneten auch Mitleid mit dem Premier und ein wenig ein schlechtes Gewissen darüber zu haben, dass er trotz seines immer wieder zitierten Lebenswerks in Luxemburg und Europa ausgerechnet über eine solche Affäre stolpern sollte. Fürsorglich brachte Marc Spautz (CSV), erst seit zweieinhalb Monaten Minister, eine Tasse Kaffee aus dem Vorzimmer, reichte sie Kulturministerin Octavie Modert (CSV) auf der hinteren Regierungsbank, die sie vorsichtig an Erziehungsministerin Mady Delvaux (LSAP) auf der vorderen Regierungsbank weiterreichte, die sie dann dem Premier trostspendend hinstellte. Die Gegenseite hatte ebenfalls ihre Choreographie. Der grüne Berichterstatter François Bausch hatte sich zuerst bemüht, im trockenen Ton des Buchhalters seinen gegen die Stimmen der CSV verabschiedeten Bericht zusammenzufassen. Das war alles längst bekannt, doch die Frage des Tages reichte er den Rednern der Fraktionen weiter: Was der Bericht mit seiner Schlussfolgerung meint, dass die politische Verantwortung des Premiers im Spiel sei? DP-Fraktionssprecher Claude Meisch forderte dann eine „Regierungsmannschaft, die nicht betroffen ist“, die sich nicht vor den nächsten Enthüllungen aus der Geheimdienstküche fürchten müsse, wie der Aufnahme des Gesprächs mit Juncker und Frieden von 2006 oder der verschlüsselten Aufnahme des Gesprächs mit dem Großherzog. Erst danach war es an LSAP-Präsident Alex Bodry, um zur Tat zu schreiten, auf die die ganze Kammer seit über vier Stunden wartete und sich gleichzeitig daran vorbeizudrücken schien. Es könne nicht sein, so Bodry, dass nach all den Verfehlungen des Geheimdienstes, nach all den Arbeiten des Ermittlungsausschusses am Ende nichts geschehe. Das Parlament würde einen „falschen Eindruck nach außen“ vermitteln, wenn jetzt „weitergefahren würde wie bisher“, wenn sich die verantwortlichen Agenten „Kemmer beim Staat, Schneider in seiner Privatfirma, Mandé beim Staat, Mille bei Siemens“ entfalteten, keinem ein Haar gekrümmt werde, und nun auch noch kein Politiker haftbar gemacht würde, sondern das Parlament die Akte einfach schließe und in den Sommerurlaub fahre. Das zumindest ist nun nicht mehr der Fall.
Kategorien: Affäre Srel
Ausgabe: 12.07.2013