Leitartikel

Tabu und Stigma

d'Lëtzebuerger Land vom 10.08.2018

Die Schule müsse sich den Schülern anpassen, nicht umgekehrt, ist einer der Lieblingssätze, die Schulminister Claude Meisch (DP) gerne anbringt. Damit begründet er die Differenzierung des Sprachenangebots in der öffentlichen Schule, ob die Formel auch bei schwierigen Schülern gilt, sagte er nicht. 150 Speziallehrer sollen sich bald um Kinder mit besonderem Förderbedarf kümmern. Sie ergänzen das Lehrpersonal, das für den Unterricht zuständig ist. Außerdem sollen externe Erziehungsangebote helfen, die ein neues Kompetenzzentrum ab dieser Rentrée koordinieren soll.

Seit eine Kindergärtnerin im Norden Alarm geschlagen hat wegen aggressiver Kinder im Krippenalter steht die Gewalt in der Schule auf der Tagesordnung. Doch über ihre Hintergründe wird wenig gesprochen, auch belastbare Zahlen gab es lange nicht. International liegt der Anteil psychiatrisch betreuter verhaltensauffälliger Kinder mit zehn bis 15 Prozent recht konstant. In Luxemburg gibt es vorsichtigen Schätzungen zufolge rund tausend Kinder, die mittelere bis starke Verhaltenauffälligkeiten aufweisen. Sie sind aus der Bahn geraten, fallen auf durch Aggressionen, halten Mitschüler vom Unterricht ab. Für die schlimmsten Fälle unter ihnen sei die Schule der falsche Ort, so Minister Meisch; sie seien unbeschulbar. Über die Ursachen verlor er auf einer Pressekonferenz im April zum Thema hingegen kein Wort.

Kinderpsychologen zufolge haben Verhaltensauffälligkeiten mit sozialen und emotionalen Bedingungen zu tun, in denen die Kinder aufwachsen. Das Statec meldete kürzlich, Chèques service und Gratis-Kinderbetreuung senkten das Armutsrisiko. Traurige Tatsache ist, dass im reichen Luxemburg das Risiko, in armen Verhältnissen aufzuwachsen, für Kinder erschreckend hoch ist. Die Zahl der Alleinerziehenden ist ebenfalls hoch und hängt mit der Scheidungsrate zusammen. Mütter und Väter müssen Vollzeit arbeiten, um den Lebensunterhalt zu bestreiten – und können oft nicht so für die Kinder da sein, wie sie es selbst wünschten.

Außen vor bleiben bei solchen Betrachtungen, was staatliche Betreuung und Bildung dazu beitragen, wenn Kinder emotional auf der Strecke bleiben: Ein Kindergartenplatz allein garantiert keine gute Betreuung, wenn das Personalkarussell dort ständig dreht und es für die Kleinen unmöglich ist, stabile Bindungen zu festen Bezugspersonen aufzubauen.

Auch in den Schulen liegt manches im Argen. Kaum jemand spricht darüber, wie verhaltensauffällige Kinder im Unterricht und auf dem Pausenhof leiden. Institutionellen Machtmissbrauch zu benennen, ist in Luxemburg noch immer ein Tabu. Dabei erinnert sich jeder Erwachsene an mindestens einen Lehrer, der mit seinem Drill, mit Beleidigungen und Demütigungen einem das Leben in der Schule zur Hölle und das Lernen vergällt hat. Dass es um das Unterrichtsklima an vielen Schulen hierzulande nicht zum Allerbesten steht, haben Studien nachgewiesen. Erfolgt ist daraus, von Einzelaktionen einmal abgesehen, wenig.

Wenn Kinder überfordert- oder unterfordert werden, wenn sie mit Langeweile oder Angst vor Leistungsdruck zur Schule gehen, kann das dazu beitragen, dass sie sich vom Untericht abwenden und irgendwann die Schule ganz abbrechen. Andere werden depressiv. Ein gesundes Selbstwertgefühl aber ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder sich wohlfühlen und gerne lernen. Dafür reicht es nicht, kindliche Störenfriede in außerschulischen Therapiezentren zu behandeln. Vielmehr müssen finanzielle Hilfen, Schulen, Elternhaus, Lehrer, Erzieher und Therapeuten sich eng verzahnen – und sich und ihre Rolle kritisch hinterfragen. Um so gemeinsam Verantwortung für das Wohlergehen und die Heilung verhaltensauffälliger Kinder zu übernehmen und aufzuhören, diese von einer therapeutischen Maßnahme in die nächste zu schicken. Oder sogar ganz ins Ausland abzuschieben.

Ines Kurschat
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