ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Flotte Übergangsszenarien

d'Lëtzebuerger Land vom 01.10.2021

Die Pubertät zwischen Kindheit und Arbeitsleben hält der Schriftsteller Dietmar Dath für den klügsten Lebensabschnitt: „Denn wer Geld verdienen muss, kriegt Angst und verblödet. Kinder dagegen haben zwar noch keine Angst, können aber auch noch nicht denken. Fünf kurze Jahre zwischen dem 13. und dem 18. Lebensjahr – mehr Zeit lässt uns die über Lohnarbeit vergesellschaftete Zivilisation nicht, den Verstand auszuprobieren und zu entwickeln, und ausgerechnet in dieser Phase bringt dann der Sexualkrempel alles durcheinander“ (Volltext, 5/2006). Folglich waren das Gros der Fridays for Future-Demonstrierenden vergangene Woche Schülerinnen und Schüler der Lyzeen, zwischen dreizehn und achtzehn.

Die Demonstrierenden verlangten, dass die Fabriken, Autos, Rinder und Heizungen ab 2030 nicht mehr Abgase ausscheiden als Wälder, Wiesen und Gewässer aufnehmen. Die Forderung ergibt sich aus der Erprobung und Entwicklung des Verstands. Denn der neuste Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) warnt, dass „the central estimate of crossing 1.5°C of global warming (for a 20-year period) occurs in the early 2030s, ten years earlier“ als bisher angenommen (S. 52). Die Regierung verspricht Klimaneutralität ab 2050, eine Generation später.

Die Grüne Partei hatte ihr erstes Jahrzehnt lang Alarm geschlagen, dass es fünf vor zwölf sei. Umweltministerin Carole Dieschbourg ist in der Partei, aber nicht in der Pubertät. Sie zählt zu jenen, die Geld verdienen müssen, Angst kriegen etc. Deshalb durfte sie sich zwei Stunden vor der Kundgebung bei RTL erklären: Sie wolle beim Klimaschutz „dee richtegen Équiliber fannen“. Die grüne Equilibristin war zuvor mittelständische Unternehmerin. Nun will sie den „Acteuren aus der Wirtschaft, deenen och kloer weisen, wat wären dann flott Transitiounsszenarien, wou mer Co-Bénéficer generéieren“.

Die Demokratische ist die Partei der Akteure aus der Wirtschaft. Streiks, Kundgebungen und andere Arbeitskämpfe hält sie für geschäftsschädigend. Erziehungsminister Claude Meisch ist in der Partei, aber nicht in der Pubertät. Er muss Geld verdienen, kriegt Angst etc. Ein Schulstreik ist nicht geschäftsschädigend. Der Minister kann Langmut walten lassen. Er ließ Vordrucke verteilen, damit die oder der Erziehungsberechtigte „autorise mon enfant à participer à la grève pour le climat du vendredi 24 septembre 2021“.

Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, dass ein Streik manierlich ist, wenn er genehmigt wurde. Nach der Pubertät lernen sie Artikel 163-2 des Arbeitsgesetzbuchs kennen. Der besagt, dass auch ein Streik von Erwachsenen der Genehmigung des Erziehungsberechtigten bedarf, des Nationalen Schlichtungsamts.

Mit dem Scharfsinn ihres Lebensabschnitts erkennen die Jugendlichen die Grenzen der Warenwirtschaft und Lohnarbeit, die das Leben formen und den Planeten verheizen. Sie begehren gegen die Surplusmacherei auf. Der Minister biegt ihr Aufbegehren in einen Schulausflug um. Er versucht, den Konflikt zu vermeiden, indem er ihn vereinnahmt.

Der Minister hat Erfolg. Die Schülerinnen und Schüler tragen Jutetaschen und fordern „die Politik“ zum Handeln auf: Sie treten ihre Handlungsfreiheit an die Ministerinnen und Abgeordneten ab. Obwohl ihre Eltern und Großeltern ihnen 2015 eine Senkung des Wahlalters verweigert hatten.

Die Regierung hat den Auftrag, mit flotten Übergangsszenarien die Produktionsverfahren anzupassen, um die Besitzverhältnisse zu erhalten. Sie bezuschusst Techniken, um den Klimawandel marktkonform zu bremsen, den Klimaschutz zu einem Geschäft zu machen. Sie setzt darauf, dass der Nachwuchs sich die Hörner abstößt. Dass er Geld verdienen muss, Angst kriegt und verblödet: Dass er nach der Pubertät von einem Niedrig-Energiehaus, einem Tesla und einem nachhaltigen Triple-A träumt.

Romain Hilgert
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