ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Strohmann gesucht

d'Lëtzebuerger Land vom 24.09.2021

Das, was Parlament, Parteien und Presse gemeinhin unter Politik verstehen, wird seit anderthalb Jahren von der Corona-Seuche beherrscht. Wenn es für Premier Xavier Bettel „kascht, wat et kascht“, fällt den Oppositionsparteien nichts mehr ein. Die ADR wich auf die Verfassungsrevision aus.

Die Wahlprogramme hatten den Wählern versprochen, über die ausgehandelten Verfassungsänderungen abstimmen zu dürfen. Seit dem Referendum von 2015 befürchten DP, LSAP, Grüne und CSV ein neues Debakel. Die CSV lieferte den Vorwand, um sich an einem Referendum vorbeizudrücken. Heroisch kündigte die ADR an, an der Forderung nach einem Referendum festzuhalten. Ein solches Alleinstellungsmerkmal fällt einem nicht alle Tage in den Schoß.

Die ADR ließ sich das Alleinstellungsmerkmal 30 000 Euro kosten. Sie schaltete im Luxemburger Wort und in Le Quotidien Anzeigen. Sie ließ ihnen über 50 000 rot-weiß-blaue Broschüren Kuckt net ewech beilegen. Einen Monat lang will sie „Info-Abende“ in lokalen Kulturzentren veranstalten.

Seit Jahren drängt sich eine Neuformierung der Verfassung durch die liberaler gewordene Gesellschaft auf. Die ADR steht kopf. Aus dieser verkehrten Perspektive erblickt sie eine „deelweis Neiforméierung vun der Lëtzebuerger Gesellschaft“ durch die Verfassung (S. 5). In ihrer Broschüre wirft sie dem Revisionsentwurf vor, das „Auslännerwalrecht duerch d’Hannerdier“ einzuführen, „géint d’Monarchie“ gerichtet zu sein und einen „Ofbau vun eiser Souveränitéit“ anzustreben. Selbst „[d]’Famill gëtt geschwächt“ (S. 7-11).

Die von der ADR gegen die Ausschweifungen der Moderne verteidigte Gesellschaft gibt es nicht. Aber es gab sie einmal. Es war der CSV-Staat der Fünfzigerjahre. Als der Landwirt noch hinter dem Pflug ging und die Grenzpendler bloß zwei Prozent der Erwerbstätigen ausmachten. Als Schülerinnen und Schüler in getrennten Klassen den Katechismus auswendig lernten. Als Ehefrauen unmündig und Abtreibung und Homosexualität Straftaten waren. Als ons Jongen in Korea gegen den Ennemi und der Geheimdienst zu Hause gegen die ELCOM (éléments communistes) kämpften.

Die ADR möchte den CSV-Staat der Fünfzigerjahre in der Verfassung verbriefen. Doch ihr Heldenmut im Kampf gegen den Ausverkauf des Vaterlands hat Grenzen. „Fir d’ADR gëllt: Dee versprachene Referendum muss kommen!“, schreibt sie (S. 3). Aber sie will die Referendumsprozedur nicht selbst anstoßen.

2009 hatte sich der Großherzog geweigert, das Euthanasie-Gesetz zu „billigen und zu verkünden“. Flugs strich das Parlament sein Vetorecht aus der Verfassung. Darüber ärgerte sich im Internet der Differdinger Invalidenrentner Jeannot Pesché. Vielleicht auf einen Wink hin gründete er ein Initiativkomitee, um die vom Gesetz verlangten 25 000 Unterschriften für ein Referendum zu sammeln.

Im Parlament hatte die ADR für die Verfassungsänderung gestimmt. Nun erwies sich Jeannot Pesché rasch als Marionette der ADR: Sprecherin seines Komitees war Marianne Lauter-Kartheiser, die Schwester Fernand Kartheisers. Eine irregeleitete E-Mail enttarnte den ADR-Abgeordneten als Strippenzieher der Initiative. Ihr Rechtsgutachter war der damalige ADR-Abgeordnete Jacques-Yves Henckes.

Trotzdem hatte einer der fünf Antragsteller seinen Auszug aus der Wählerliste vergessen. Dann versuchte eine Initiatorin abzuspringen. Die landesweit in allen Gemeinden ausgelegten Unterschriftenlisten waren 796 Mal unterzeichnet worden. Bei 223 876 Wahlberechtigten stellte das einen Sukkurs von 0,4 Prozent gegen die Revision und für den Großherzog dar.

Auch heute würde die Zahl der Unterschriften zugunsten eines Referendums näher bei 796 als bei 25 000 liegen. Mit ihrer Verteidigung eines überlebten Familienbilds oder des Münzrechts des Großherzogs löst die ADR eher Heiterkeit aus. Das ahnt auch die ADR. Deshalb sucht sie wieder einen Strohmann.

Romain Hilgert
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