Bellende Waffen

Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

d'Lëtzebuerger Land vom 17.09.2021

Es gibt gute Gründe, Hunde nicht zu mögen. Sie sind ungestüm, sie machen Lärm, sie riechen übel. Ihre Vorfahren waren hierarchisch organisierte Rudeltiere. Deshalb verhalten sie sich hündisch. So eignen sie sich als Arbeitstiere.

36 vor Christus schrieb der Großgrundbesitzer Marcus Terentius Varro drei Bücher über Agronomie. Darin unterschied er drei Gattungen landwirtschaftlicher Werkzeuge: „instrumenti genus vocale et semivocale et mutum“ (De re rustica, I, 17). Als sprechende Werkzeuge wurden Sklaven angesehen, als bellende und wiehernde Werkzeuge Arbeitstiere und als stumme Werkzeuge Spaten und Karren.
Laut Varro gehören Hunde zu den bellenden Werkzeugen. Hierzulande waren Hunde die Pferde und Ochsen der Kleingewerbetreibenden. Sie arbeiteten in der Produktion und trieben in Laufrädern die Blasebälge der Nagelschmiede an. Sie arbeiteten in der Zirkulation und zogen die Karren der Milchhändler. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft und hüteten Herden oder bewachten Haus und Hof.

Bis heute arbeiten Hunde besonders in der Repression. Das Hundegesetz vom 9. Mai 2008 zählt sieben Rassen auf, die als psychotische Kampfmaschinen gezüchtet werden. In Amerika richteten Konquistadoren und Plantagenbesitzer Hunde zur Jagd auf Indios und Sklaven ab. Beim Zoll suchen Hunde nach verbotenen Substanzen.

Die LSAP verspricht soziale Gerechtigkeit. Die Grünen versprechen saubere Natur. Doch wenn sie regieren, können sie nicht mehr richtig liefern. Ähnlich ergeht es der CSV und dem rechten Flügel der DP: Sie schwören seit jeher auf Law and order. Deshalb stimmten ihre Großväter am 23. April 1937 ein Maulkorbgesetz. Nicht für Hunde, sondern für Kommunisten.

Am 7. September malte Bürgermeisterin Lydie Polfer bei RTL ein dramatisches Bild des hauptstädtischen Bahnhofsviertels: Sie erschrecke, wenn „op offener Strooss wierklech den Drogenhandel virleeft, wéi déi Leit sech op offener Strooss hire Shoot setzen an déi intimste Plaze vun hirem Kierper“. Dazwischen all die Kleinkriminellen: „Do stinn der zwanzeg, drësseg zesummen, déi offen do dealen.“

Das ist eine klägliche Bilanz für eine Koalition, die seit vier Jahren, für eine Bürgermeisterin, die mit Unterbrechungen seit bald 40 Jahren im Amt ist. Doch für all das menschliche Elend unter freiem Himmel fühlt sich niemand verantwortlich. DP und CSV tun so, als ob jemand anderes die Stadt regierte. Sie können weder Ordnung noch Sicherheit gewährleisten. Sie reichen die Verantwortung hartnäckig weiter: an Regierung, Justiz und Polizei.

Auf Rechnung der Stadt patrouilliert im Bahnhofsviertel eine private Wach- und Schließgesellschaft. Sie macht den öffentlichen Raum ein wenig zu einem privaten. Jährlich verkauft 4GS in 85 Ländern Sicherheit für 18 Milliarden Dollar. Im Bahnhofsviertel sollen die paar 4GS-Uniformierten nicht das menschliche Elend beseitigen. Sie sollen es nicht einmal bewachen und wegschließen. Sie sollen als Gegenmacht zum Staat aufmarschieren. Sie sollen an die goldene Zeit vor 1930 erinnern, bevor die Verstaatlichung der Lokalpolizeien begann.

Noch verlangt das staatliche Gewaltmonopol, dass die Wachleute unbewaffnet sind. Sie führen Hunde mit. Vor zwei Wochen verprügelten vier 4GS-Wachmänner einen Betrunkenen in der Al Avenue. Dann ließen sie einen ihrer beiden Hunde auf ihn los. Der Hund verletzte den Mann krankenhausreif.

Dem Mann wurde nicht ins Bein geschossen, sondern ins Bein gebissen. Die Wachleute führen die Hunde anstelle von Pistolen mit. Marcus Terentius Varro würde sagen: als bellende Waffen. Die archaischen Waffen sind mit einem Maulkorb gesichert. Zur Entsicherung der Waffe nehmen die Wachmänner die Maulkörbe ab. Dann rufen sie: „Attaque! Attaque!“ Die Waffen gehen los. Danach gibt die Bürgermeisterin der Waffe die Schuld: „Deen Hond, deen huet sech esou beholl, wéi een net gäre gesäit, datt dat soll sinn.“

Romain Hilgert
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