Mit nur 28 Jahren wurde die Piratin Tammy Broers am 11. Juni in den Escher Gemeinderat gewählt. Um an den Sitzungen im Rathaus teilzunehmen und sich darauf vorzubereiten, stünden der alleinerziehenden Mutter eines elfjährigen Sohnes eigentlich wöchentlich fünf Stunden congé politique zu, die von der Gemeindeverwaltung bezahlt werden. Fünf Stunden sind nicht viel, doch laut Gesetz haben die Räte in allen Gemeinden, die nach dem Proporzsystem wählen, fünf Stunden – in Majorzgemeinden sind es nur drei. Für Bürgermeister und Schöffen ist der congé politique nach Einwohnerzahl gestaffelt, für Gemeinderäte gilt diese Staffelung nicht. Die damalige Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) hatte im Juli 2022 einen Gesetzentwurf hinterlegt, mit dem sie den politischen Urlaub in „décharge pour activités politiques“ umbenennen und erhöhen wollte. Ihr Nachfolger Léon Gloden (CSV) hat den Entwurf an den parlamentarischen Ausschuss für Inneres weitergeleitet.
Tammy Broers hat kein Anrecht auf congé politique. Wenn sie an den Sitzungen des Escher Gemeinderats teilnehmen will, die meistens Freitagvormittags stattfinden, muss sie regulären Urlaub beantragen. „De Congé politique gëllt net fir Persounen, déi an enger Aarbechtsmesure bei der Adem ageschriwwe sinn, well all déi Mesuren nët op engem Aarbechtskontrakt baséieren, mee op Kontrakter sui generis, esou wéi dat och vun den verschiddene Geriichtsinstanzen e puer Mol festgehale ginn ass“, antworteten Innenminister Léon Gloden und Arbeitsminister Georges Mischo (beide CSV) vor vier Wochen auf eine parlamentarische Anfrage der Piraten-Abgeordneten Sven Clement und Marc Goergen. Nur im Rahmen von sogenannten Mesures spéciales, die auf einem „richtigen Arbeitsvertrag“ basieren, gelte der Arbeitssuchende als Beschäftigter, der von den „normale Congés extraordinaires a spéciaux“ profitieren könne. Zurzeit plane die Regierung nicht, das Gesetz diesbezüglich zu ändern.
Einen richtigen Arbeitsvertrag hatte Tammy Broers noch nie. Zurzeit ist sie in einem Contrat d’appui-emploi bei der Adem, im Rahmen dessen sie am Montag in der Schulkantine des Lycée Nic Biever in Düdelingen zu arbeiten beginnt.
Tammy Broers wurde 1995 in Esch geboren, aufgewachsen ist sie im Escher Zentrum, ging im Ale Lycée zur Schule, danach in den „Nonnebunker“, bei der Beschäftigungsinitiative Co-Labor absolvierte sie eine Lehre als Baumschulgärtnerin und war bei den Escher Majoretten aktiv. Ihre Mutter arbeitet im „Enregistrement“, ihr Vater beim Zoll, ihr Bruder als Automechaniker. „All Lëtzebuerger“, sagt Tammy Broers. Mit ihrem elfjährigen Sohn wohnt sie in einer kommunalen Sozialwohnung in Lallingen.
Zu den Piraten kam sie 2017. Ihr Onkel Libor Chmelik, der 2006 mit dem damaligen Abgeordneten Aly Jaerling die ADR verlassen hatte, 2009 und 2011 auf dessen Biergerlëscht antrat, um sich 2013 den Piraten anzuschließen, hatte sie gefragt, ob sie zu den Gemeindewahlen kandidieren wolle. Da auch ihre Tante Marigold „Goldie“ Broers und deren Freund Marino Negosanti bei den Piraten sind, fiel ihr die Entscheidung leicht. „Jo, kann ee probéieren, wat draus gëtt“, habe sie ihrem Onkel geantwortet: „Mee lo sëtzen ech an der Gemeng“, sagt Tammy Broers stolz.
2017 wurde sie auf der Piratenliste Dritte in Esch, 2018 belegte sie bei den Kammerwahlen Platz 16, im Juni 2023 bescherte sie ihrer Partei den ersten Sitz im Gemeinderat. Nach einer oberflächlichen und leicht populistischen, doch hinsichtlich der Sitzausbeute wirksamen Wahlkampagne erhielten die Piraten fast so viele Listenstimmen wie déi Lénk, denen sie ihren zweiten Sitz in Esch wegnahmen. Einzelstimmen bekamen sie fast 5 000 weniger, doch Tammy Broers schnitt besser ab als ihr Ko-Spitzenkandidat Sam Vagnarelli, der die Partei inzwischen „aus beruflichen Gründen“ verlassen hat. Sie ist eine von 19 Pirat/innen, die es in einen Gemeinderat geschafft haben, in Colmar-Berg stellen sie mit Mandy Arendt sogar die Bürgermeisterin.
Im Escher Gemeinderat wusste bis Juni keiner, wer Tammy Broers ist. Und auch sie kannte die anderen Ratsmitglieder nicht. Tammy Broers kommt aus „dem anderen Esch“, nicht dem der Politkaste, deren Mitglieder trotz unterschiedlicher politischer Couleur alle weitgehend in den gleichen Milieus, in derselben Bubble verkehren: in den großen Sport- und Musikvereinen, den kulturellen Einrichtungen, in etablierten und von einem eher (bildungs-)bürgerlichen Publikum besuchten Bars und Restaurants.
Tammy Broers ging hingegen in von diesem Publikum häufig als „vulgär“ empfundene Cafés, die vorwiegend von Angehörigen unterer sozialer Schichten frequentiert werden. Die meisten haben inzwischen geschlossen oder unter neuem Namen den Besitzer gewechselt: Im Sixty Six an der Place Boltgen war sie regelmäßiger Gast, in der Brasserie Amadeus am Friedhof Saint Joseph, auch im Café Journal am Rathausplatz. Sie war mit den Mitgliedern des Schifflinger Karnevalclubs Folklorama unterwegs, bei den „unpolitischen“ Ultras der Jeunesse Esch hat sie Freunde. Viele Leute würden sie kennen, sie unterhalte sich gerne mit Menschen, sagt Tammy Broers.
Im Gemeinderat fiel ihr das Reden bislang schwer. Der institutionalisierte politische Diskurs entspricht nicht ihrem Habitus, Rhetorik gehört nicht zu ihren Stärken. Ihre Antrittsrede am 14. Juli dauerte nur 90 Sekunden, sie verhaspelte sich, versuchte einen Text von ihrem Smartphone abzulesen, was ihr jedoch misslang. Sie sagte, sie wolle sich für Wohnungsbau einsetzen und für Sicherheit, damit die Kinder wieder in den Straßen spielen könnten. Aber auch für alleinerziehende Mütter, die sich nicht alles leisten können. Ihnen müsse unter die Arme gegriffen werden.
Ihr kurzer erster Auftritt wurde in den sozialen Netzwerken viel kommentiert. Der linke Kandidat Samuel Baum warf Sven Clement vor, Tammy Broers nicht gebrieft, unterstützt und politisch aufgeklärt zu haben: „Au Contraire!, seng Crew gëtt an [en] oppent Messer lafe gelooss!“
Seitdem hat Tammy Broers sich kaum noch im Gemeinderat zu Wort gemeldet. Selbst bei der Haushaltsdebatte Ende Dezember schwieg sie. Am Ende stimmte sie mit den anderen Oppositionsparteien gegen die Vorlage, ohne ihre Entscheidung begründet zu haben: „Mam Budget, hate mer e klenge Problem, ech hat dat alles net fonnt gehat mam Budget a mär sinn net an de Kommissiounen dran“, erklärt die Piraten-Rätin. Zehn Monate nach den Wahlen haben die Escher Piraten immer noch keine Vertreter/innen in die konsultativen kommunalen Kommissionen berufen, wo die öffentlichen Sitzungen des Gemeinderats vorbereitet und wichtige Themen besprochen werden. Was vor allem daran liegt, dass es ihnen an engagierten Mitgliedern fehlt. „Wir sind dabei, die Escher Sektion aufzufrischen. Wenn jetzt die Braderien kommen, werden wir neue Mitglieder anwerben und danach die Kommissionen besetzen“, sagt Tammy Broers.
Auch sie selbst nimmt nicht an den Kommissionssitzungen teil, obwohl sie als Rätin dazu berechtigt wäre. Weil sie in einer Beschäftigungsmaßnahme sei, dürfe sie die Präsenz-Jetons, die ihr für die Teilnahme zustehen, nicht behalten, sagt sie. Tatsächlich hält die Gemeindeverwaltung ihre Jetons wegen privater Zahlungsrückstände ein.
Tammy Broers’ Auftritte im Escher Gemeinderat hatten in den vergangenen Wochen bei der Piraten-Führung Besorgnis ausgelöst. Der in der Partei für den Südbezirk zuständige nationale Koordinator Marc Goergen bezeichnete sie Anfang März gegenüber dem Land als „perdue“ und warf ihr mangelnde Kommunikation mit der Parteileitung vor. Wenn dieser Zustand anhalte, müsse er die „Reißleine“ ziehen und sie aus der Partei ausschließen, um einen Imageschaden zu verhindern (d’Land, 1.3.2024). Nach Goergens mahnenden Worten habe man ein klärendes Gespräch im Vorstand des Südbezirks geführt, sagt Ben Lommel, Vorstandsmitglied und Gemeinderat in Kayl, der Tammy Broers am Dienstagvormittag zum Termin mit dem Land in der Brasserie La Petite Table am Escher Rathausplatz begleitete. Ein Parteiausschluss sei inzwischen vom Tisch. Tammy Broers gesteht, am Anfang sehr aufgeregt und nicht mit den Prozeduren im Gemeinderat vertraut gewesen zu sein. Die anderen Gemeinderäte der Piraten hätten ihr Tipps gegeben und Unterstützung angeboten. Inzwischen gehe es „schon viel besser“.
In Esch, wo die Piraten noch nie eine funktionierende Sektion hatten, verfügen sie – wie vielerorts – nicht über dieselben Strukturen und Kanäle wie etwa in Petingen, wo sie inzwischen vier Sitze im Gemeinderat haben. In der mit über 20 500 Einwohner/innen viertgrößten Gemeinde Luxemburgs betreibt der Abgeordnete und nationale Parteikoordinator Marc Goergen, der sich inzwischen aus dem Petinger Gemeinderat zurückgezogen hat, die Facebook-Gruppe „Ech wunnen an dar Péitenger Gemeng“, die fast 5 000 Mitglieder zählt. Neben von Goergen geteilten lokalen Nachrichten finden sich in den Diskussionsbeiträgen vor allem Bilder von vermissten Haustieren und Werbeanzeigen von mittelständischen Geschäftsleuten aus der Gemeinde. Zu den „Top Contributors“ zählen Goergens Mutter Sylvie Kohl und seine Cousine Martine Kohl, bis Januar Ko-Sprecherin im Südbezirk. Beide kandidierten schon mehrmals für die Piraten. Sylvie Kohl ist Präsidentin des von Marc Goergen mitbegründeten Tierschutzvereins Vermëssten Déieren asbl. mit über 14 000 Mitgliedern, Martine Kohl Vorsitzende der Hilfsorganisation Street Angels, die Lebensmittel an Obdachlose verteilt.
Vor zwei Wochen bescherten die Street Angels Tammy Broers ihren ersten großen öffentlichen Auftritt. Nachdem sie am 14. März schon von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt und ohne Genehmigung der Stadtverwaltung eine Aktion im Escher Zentrum durchgeführt hatten, wo Tammy Broers nicht dabei sein konnte, weil sie an dem Tag Geburtstag hatte, versuchten die Street Angels es eine Woche später erneut. Weil der kommunale Sozialdienst ihnen das aber untersagte, luden sie die Presse ein. Diesmal kam Tammy Broers, um sich mit der Hilfsorganisation solidarisch zu zeigen und sich gegen diese vermeintliche Ungerechtigkeit der Gemeinde zu wehren. Sie alarmierte auch die anderen Oppositionsparteien im Escher Gemeinderat, doch es kam nur Bernard Schmit von der ADR. Marc Baum von déi Lénk saß zu dem Zeitpunkt in einer Kammersitzung, LSAP-Oppositionsführer Steve Faltz hatte ebenfalls keine Zeit. Beide Parteien unterstützten aber im Nachhinein die Street Angels.
Wie war es zu dieser Aktion gekommen? Wieso hatten die Street Angels erst im März und nicht schon im Winter Lebensmittel an Escher Obdachlose verteilt? Vor etwa einem Monat habe sie mit Martine Kohl und dem Koordinator der Escher Piraten-Sektion, Patrick Steffen, zusammengesessen, erzählt Tammy Broers. „Vu dass hei vill Leit op der Strooss sinn, do huet hatt [Martine Kohl] gesot, da komme mer eng Kéier op Esch. Da probéiere mer de Projet hei zu Esch fir Neie Start, also eng nei Asbl, fir ze kucken, wéi vill Leit géife kommen, ob sech dat rentéiert.“ Neie Start ist eine Anfang März gegründete gemeinnützige Vereinigung aus dem erweiterten Dunstkreis der Street Angels, die kostenlose Entrümpelungen für Privatpersonen anbietet und ihren Kund/innen dadurch einen „Neustart“ ermöglichen möchte. „Les articles que vous nous confiez sont entre de bonnes mains : nous nous occupons du processus de nettoyage, de revalorisation et de redistribution envers nos partenaires, comme les ‚Street Angels a.s.b.l.‘ actifs depuis des années aux Grand-Duché, ou même la redistribution directe au grand publique“, verspricht Neie Start auf Facebook.
Diese Aktion war für Tammy Broers eine Steilvorlage, um sich politisch im Gemeinderat zu profilieren. Obwohl keiner der Räte eine Diskussion darüber auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung (vom 29. März) gesetzt hatte, nahm die Opposition in der Diskussion um die Notunterkunft Abrisud auch zu den Street Angels Stellung. Mehrere Mitglieder der Vereinigung wohnten der Sitzung bei. In ihrem Redebeitrag brachte Tammy Broers ihre Unterstützung für die Street Angels unmissverständlich zum Ausdruck. Allerdings fasste sie sich erneut sehr kurz, was darauf schließen lässt, dass sie keinen Text vorbereitet und vermutlich auch kein anderer Pirat ihr geholfen hatte. Es sei ihr vor allem darum gegangen, „dass de Buergermeeschter gesäit, dass ech och dobäi war“, sagt sie dem Land.
„Et ass flott, dass ech iwwert alles ka matbestëmmen, wat hei an Esch sou leeft“, beschreibt Tammy Broers ihre Rolle im Gemeinderat. „Si hu mech an de Projet eragesat mat de Sozialwunnengen, dee ganz neie Projet mam Foyer de Nuit an dat alles.“ Für Esch wünscht sich die Piraten-Rätin, dass die Alzettestraße aufgefrischt wird und es beispielsweise wieder mehr Schuhläden gibt. Sie selbst habe als Alleinerziehende keine Probleme, Beruf, Familie und Politik miteinander zu vereinbaren, sagt Tammy Broers, weder organisatorisch, noch finanziell. Sie ist zuversichtlich, dass sie sich in den kommenden Monaten rhetorisch verbessern wird. Bis dahin versucht sie, ihren Einfluss als Gemeinderätin auf zwischenmenschlicher Ebene auszuüben. Nachdem ihr Banknachbar Bernard Schmit (ADR) bei der letzten Sitzung im Gemeinderat gegen den Zuschuss der Gemeinde für Rosa Lëtzebuerg zur Veranstaltung der Luxembourg Pride gestimmt hatte, habe sie ihn davon zu überzeugen versucht, seine Haltung zu überdenken: „Ech hunn him gesot, hee soll sech dat mol ukucken, an da weess de em wat et geet an da kanns de der eng eege Meenung maachen. D’Pride ass schonn immens flott.“