Mit seiner am 2. April verfassten und am 8. April offiziell vorgestellten Erklärung Dignitas infinita leistet Papst Franziskus dem sogenannten „Anti-Woke“-Diskurs rechtskonservativer bis rechtsextremer Parteien im Europawahlkampf Vorschub. In dem Papier heißt es, die „Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewusstseins“, die Gender-Theorie trage maßgeblich zu „ideologischen Kolonisierungen“ bei, weil sie versuche, neue Menschenrechte einzuführen, und geschlechtsangleichende Operationen bei Trans-Personen würden „die einzigartige Würde“ bedrohen, „die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an“ besitze. Verfasst wurde die Erklärung vom Dikasterium für die Glaubenslehre, das vom argentinischen Kardinal Víctor Manuel Fernández geleitet wird. Laut Luxemburger Bistum hat Kardinal Jean-Claude Hollerich nicht an dem Text mitgearbeitet, weil er nicht Mitglied des Dikasteriums sei.
Trotzdem unterstützt das hiesige Bistum die Erklärung, wie Generalvikar Patrick Muller auf Land-Nachfrage bestätigt. Muller verweist darauf, dass die katholische Kirche in Dignitas infinita ihre Position bekräftige, „dass kein Mensch aufgrund seiner sexuellen Orientierung und seiner Menschenwürde verletzt oder ungerecht behandelt werden“ dürfe. Dass die Kirche an der Geschlechterbinarität festhält, begründet der Generalvikar damit, dass Gott „de Mënsch als Mann a Fra geschafen“ habe: Nur aus ihrer Unterschiedlichkeit und ihrem Zusammenkommen könne neues Leben entstehen. Zwar unterscheidet Muller zwischen biologischem Geschlecht und soziokultureller Rolle von Geschlecht, doch sex und gender seien nicht voneinander zu trennen. Geschlechtsangleichende Operationen bergen laut Bistum die Gefahr, „déi eenzegaarteg Dignitéit, déi de Mënsch vum Moment vu senger Empfängnis un kritt huet, ze verletzen“.
Laurent Boquet, bekennender Katholik und Vorstandsmitglied bei Rosa Lëtzebuerg, bemängelt seinerseits die ambivalente Haltung der katholischen Kirche bei ihrer Auseinandersetzung mit queeren Themen. Einerseits mache sie Fortschritte, andererseits blieben ihre Ansätze oft hinter den Erwartungen der LGBTIQ+ Community zurück. Im November hatte das aus der Inquisition hervorgegangene Dikasterium für die Glaubenslehre noch in einer Erklärung geduldet, dass Trans-Personen die Taufe empfangen können, auch wenn sie sich einer Hormonbehandlung oder einer geschlechtsangleichenden Operation unterzogen haben. Im Dezember hatte es die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren erlaubt. Daraufhin habe es Kritik gegeben, insbesondere von Bischöfen aus Ländern wie Kenia, Nigeria und Malawi, wo Homosexualität illegal ist und teils hart bestraft wird, sagt Boquet. Während es „sehr zu begrüßen“ sei, dass der Vatikan in Dignitas infinita Verstöße gegen die Menschenwürde, wie die Inhaftierung, Folter und sogar Tötung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung kritisiere, zeige die widersprüchliche Haltung des Vatikans zu medizinischen Eingriffen bei Trans- und Intersexuellen eine offensichtliche Inkonsequenz. Transgeschlechtliche Personen würden für das Bestreben, geschlechtsangleichende Operationen vornehmen zu lassen, kritisiert, bei intersexuellen Personen würden ähnliche Eingriffe jedoch als akzeptabel angesehen, sofern sie dazu dienen, genitale Unstimmigkeiten zu „korrigieren“. Durch diese Differenzierung werde eine Ausnahme von der Regel zugelassen, wenn sie das binäre Geschlechtersystem unterstützt, jedoch nicht, wenn sie es herausfordert, betont Laurent Boquet. So werde eine diskriminierende Linie zwischen dem Akzeptablen und dem Verbotenen gezogen, basierend auf einer dogmatisch festgelegten Geschlechterordnung. Ohne eine grundlegende Hinterfragung und Anpassung der eigenen Doktrin könne die Kirche in den Diskussionen um Gender und Sexualität keine echten Fortschritte erzielen.
Besonders energisch verteidigt der Generalvikar gegenüber dem Land das in Dignitas infinita ebenfalls bekräftigte Abtreibungsverbot: In der „Banalisierung“ der Abtreibung will die Kirche „eng moralesch Kris“ erkennen, „wou d’Bewosstsinn an d’Gewësse vu ville Mënschen ëmmer manner amstand sinn, gutt a béis vunenaner ze ënnerscheeden“. Man müsse die Dinge beim Namen nennen: „D’virsätzlech Ofdreiwung ass d’Doutmaachen vun engem Mënsch tëschent senger Empfängnis a senger Gebuert, an enger Situatioun also wou dëse Mënsch dee schutzlosesten an onschëllegste vun alle Mënschen ass, a wou him d’Würd an d’Recht ze liewen verwiert ginn“, schreibt Patrick Muller in seiner Stellungnahme. Die Erklärung des Vatikans erschien kurz nachdem Frankreich das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankerte und kurz bevor die deutsche Ampel-Regierung ihre Pläne offenbarte, Abtreibungen innerhalb der ersten zwölf Wochen zu legalisieren.