„Homosexuality, sickness or crime?“ lautet der Vortragstitel an einem Seminar von Amnesty International in Remich im Jahr 1981. Gehalten hat ihn die Gynäkologin und Mitarbeiterin am Planning Familial Marie-Paule Molitor-Peffer. Sie beantwortet ihre Titelfrage mit weder noch. Homosexualität sei keine Krankheit oder Perversion, sondern „eine Art sich selbst zu sein“. Homosexuelle Veranlagungen seien angeboren und nicht auf Verführungen von älteren Herren zurückzuführen, wie damals häufig angenommen wurde. In den frühen 1980-er-Jahren baute sich die Stigmatisierung von gleichgeschlechtlicher Sexualität ab, wenngleich die ersten Aids-Fälle 1981 bekannt wurden. Doch mit dem Voranschreiten der Infektionen kippte die Stimmung.
In einem Land-Artikel aus dem Jahr 1986 bedauert Marie-Paule Molitor-Peffer: „Die Lustseuche geht also um. Eine neue Seuche, die ernsthafte Ängste und archaische Reaktionen auslöst, wobei man sich nicht bemüht, zwischen Panik und realer Sorge zu differenzieren.“ Sie zeigt sich schockiert über den Umgang der Medien mit der Krankheit. Vor allem der Spiegel fiel ins Hetzerische: „Droht eine Pest? Wird Aids wie ein apokalyptischer Reiter auf schwarzem Roß über die Menschheit kommen? Oder werden nur die homosexuellen Männer daran glauben müssen?“, schreibt das Hamburger Blatt 1983. Und zitiert einen Bakteriologen demzufolge „der Herr für die Homosexuellen immer eine Peitsche bereit hat“. Über ihre moralisierenden Kollegen schreibt Molitor-Peffer: „Wenn die Medizin schon nicht heilen kann, so kann sie wenigstens ausgrenzen und isolieren.“ Ihre Antwort war eine andere: Aufklären. Im gleichen Zeitraum sollte in Luxemburg der Homosexuellenparagraf (372bis) aus dem Jugendschutzgesetz gestrichen werden. In dem Rahmen beantragte der Staatsrat eine Stellungnahme beim Ärztekollegium. Die Ärzteschaft dozierte daraufhin über eine „aberration franche, anormale d’un point de vue physiologique aussi bien que du point de vue médical“.
In der für den diesjährigen Sachbuchpreis nominierten Biografie Ärztin ohne Furcht und Tabus zeichnet die Journalistin Josiane Kartheiser die Kämpfe der unermüdlichen Gynäkologin nach. Marie-Paule Molitor-Peffer wurde im Oktober 1929 als Tochter des Allgemeinmediziners Joseph Peffer und Anne Bofferding, aus der gleichnamigen Brauereifamilie, in Luxemburg-Stadt geboren. 1961 heiratet sie den Lungenarzt Georges Molitor, der zugleich in das Bier-Business einstieg (cf. Seite 25 in dieser Ausgabe). Die Ärztin stößt fünf Jahre später zur neugegründeten Vereinigung Famille heureuse – Mouvement luxembourgeois pour le planning familial. Zu Beginn ihrer Tätigkeit konzentriert sie sich auf Empfängnisverhütung und Abstriche zur Krebsfrüherkennung. Es folgen in den 1970-er-Jahren das Engagement für Alleinerziehende, die Entkriminalisierung der Abtreibung und in den 1980-ern die damals sogenannte sexuelle Aufklärung im schulischen Curriculum. Von Gegnern wird das Planning das „Anti-Baby-Zentrum“ genannt; sie verschreien die Verhütungspille als Auslöser für Promiskuität, Perversionen und Exzesse. Die Ärztin Molitor-Pfeffer sei verantwortlich für den Geburtenrückgang und gefährde das Wirtschaftswachstum, behauptete der damalige Statec-Direktor Georges Als.
An diesem Mittwochmorgen ist es ruhig im Planning Familial im Bahnhofsviertel. Eine junge Blondine sitzt im Wartesaal, zwei Angestellte plaudern im Flur. Im Eingangsbereich befinden sich gestapelte Hygieneprodukte: Es handelt sich um eine Spendenaktion von Binden und Tampons. Diese sollen an prekarisierte Frauen verteilt werden. Broschüren informieren über unterschiedliche Verhütungsmittel. Aber auch über Geschlechtskrankheiten. Seit 2008 hat sich die Strategie in Bezug auf HIV verändert. Da antiretrovirale Medikamente die Virusvermehrung eindämmen können und somit die Übertragung verhindern, spricht man nun von „Prävention durch Behandlung“. Kondome schützen vor dem HI-Virus und anderen sexuell übertragbaren Infektionen (STI). Aber nicht alle STIs werden über die Genitalen übertragen. Hinzu kommt, dass Erreger, wie Chlamydien oder Gonokokken, sehr ansteckend sind, deshalb bieten Kondome keinen 100-prozentigen Schutz. „Wir verteilen über verschiedene Standorte im Land gratis Kondome. Aber es wäre gut, wenn die Krankenkasse flächendeckend die Kosten tragen würde, wie mittlerweile für andere Verhütungsmethoden auch, etwa die Pille oder die Vasektomie“, führt die Planning-Direktorin Emilie Kaiser aus. Zu Beginn der 1980-er-Jahre gab es noch Apotheken, die keine Kondome im Regal führten. Die Gynäkologin Marie-Paule Molitor-Peffer berichtete in einem Zeitungsartikel, dass eine Minderheit an Apothekern sich weigern würde, diese zu verkaufen. Im Planning konnte man sich Kondome damals bereits umstandslos besorgen. „Heute ist man nicht mehr nur auf Kondome angewiesen, es gibt die Notfallbehandlung, die Präexpositionspille und antiretrovirale Medikamente. Das ist eine Revolution“, führt ihrerseits Laurence Mortier, von der HIV-Beratung des Roten-Kreuzes diesen Montag im Quotidien aus
Bis zum 27. November läuft noch die EU-Test-Woche, die ermutigen soll, sich auf sexuell übertragbare Infektionen testen zu lassen. Es ist die zehnte Ausgabe. Im Rahmen dieser Sensibilisierungswoche veröffentlichte das Gesundheitsministerium am Montag die neuesten Zahlen der HIV-Infizierten in Luxemburg. Die Zahl der Behandelten stieg 2022 an: 167 Patienten waren wegen der Virusinfektion hierzulande erstmals in einer Sprechstunde. 97 von ihnen wurden allerdings zuvor bereits im Ausland betreut, bei weiteren 67 handelt es sich um Neuinfektionen (im Vergleich dazu waren es im Vorjahr 51 Neuinfektionen). Das Ministerium stellte zudem einen hohen Frauenanteil fest. 39 Prozent der Neuinfektionen und 49 Prozent der neu aufgenommenen Fälle sind Frauen zu zurechnen. Darüber hinaus tauchen nicht nur junge Personen in der Statistik auf: Ein Drittel der neuinfizierten Heterosexuellen sind über 45 Jahre alt. Die Mehrheit der Übertragungen bei gleichgeschlechtlichem Sex erfolgt jedoch zwischen Männern unter 36 Jahren. Laut dem Tageblatt erklärt sich die Santé „diesen plötzlichen Anstieg der diagnostizierten HIV-Infektionen durch das vermehrte Testen sowie die Wiederaufnahme der Mobilität der Menschen nach der Corona-Pandemie sowie die Wiedereröffnung von Treffpunkten.“ Im Quotidien relativisiert Laurence Mortier den Anstieg: „Mit der Zuwanderung, insbesondere aus der Ukraine, sind auch infizierte Personen in die Statistik eingeflossen, die dies aber bereits wussten.“
Das HI-Virus ist nicht die häufigste sexuell übertragbare Infektion. In Nordamerika und Europa ist vor allem die Übertragung des Bakteriums Chlamydia trachomatis unter jungen Menschen verbreitet. 2021 wurden 209 Patient/innen sowie deren Partner durch das Planning Familial mit Antibiotika behandelt. Werden Chlamydien nicht rechtzeitig behandelt, kann es zu einer Verstopfung der Eileiter bei Frauen kommen, die zu Unfruchtbarkeit führt. Die Rate an positiven Tests nimmt europaweit konstant zu. Daneben ist Syphilis wieder in Europa verbreitet – allen voran in Luxemburg, Malta, Spanien und England. In 90 Prozent der Fälle sind die Betroffenen Männer. Bei 868 Screenings wurden im Planning 16 Ansteckungen festgestellt. Die vor der Entdeckung des Penicillins nicht behandelbare Krankheit wird häufig mit Literaten assoziiert: Jules de Goncourt erlag 1870 der Syphilis; Arthur Schnitzler wurde von seinem Vater dazu veranlasst einen medizinischen Wälzer über die Krankheit durchzuarbeiten.
„Der Aufklärungsbedarf in Schulen bleibt bestehen, weil die Jugendlichen gehäuft Videos mit Fehlinformationen ausgesetzt sind. Sie denken dann beispielsweise, wenn man aus dem gleichen Glas wie ein Infizierter trinkt, könne man sich mit dem HI-Virus anstecken“, erläutert Emilie Kaiser. Sechs Personen sind am Planning eingestellt, um Schulbesuche zum affektiven und sexuellen Leben anzubieten. STIs werden frühestens ab dem letzten Grundschuljahr thematisiert, falls Schüler/innen dies wünschen. „Anders als in den 1980-er-Jahren wird Aids nicht mehr zuvorderst mit Homosexualität in Verbindung gebracht“, erläutert sie.
Und anders als in den 1980-er-Jahren schreibt das Wort heute nicht mehr gegen Aufklärungskampagnen und den Sexualkundeunterricht an. Im Juli 1980 befand der Chefredakteur André Heiderscheid, es rolle eine Porno- und linksideologische Verwahrlosungswelle über die Jugend. Weshalb er die Eltern zur Selbstjustiz aufruft: Denn mit demokratischen Mitteln sei diese Entwicklung nicht mehr zu stoppen. Gegen Stimmen wie André Heiderscheid ging die Gynäkologin Marie-Paule Molitor-Peffer in die Offensive. Aber auch gegen moderatere Personen, wie die Künstlerin Michèle Koltz-Chedid, die im Land schrieb, dass „Jugendliche in einem Umfeld baden, das sie umfassend informiert“. An was sie da denke, fragt Molitor-Peffer – Pornos und Prahlereien aus der Peer-Gruppe?