Der Marder von Kirchberg

d'Lëtzebuerger Land du 24.05.2019

Am Sonntagmorgen konnten sich die Einwohner der Stadtviertel Kirchberg, Beggen, Cessingen, Rollingergrund, Weimerskirch und die wenigen, die im Stadtzentrum wohnen, wundern, dass die Uhren an ihren Mikrowellenöfen neu gestellt und Espressoautomaten frisch programmiert werden mussten während die Mobiltelefone nicht über Nacht geladen hatten. Offensichtlich war der Strom ausgefallen. Der Netzbetreiber Creos teilte daraufhin auf seiner Webseite mit: „La panne a été causée par un animal („Marder“) qui a provoqué un court-circuit au niveau d’un transformateur 65 kV/20 kV du poste Kirchberg A.“ Über den politischen oder religiösen Hintergrund des Tiers, das schaffte, wovon mancher Bommeleeër nur träumen kann, nämlich während mehrerer Stunden die Server im Finanzzentrum und bei den Europäischen Institutionen in Bedrängnis zu bringen, ist bisher ebensowenig bekannt, wie ob es sich um einen Einzeltäter handelte oder es Mithelfer hatte.

Doch dass es ihm problemlos gelang, in eine derart wichtige Umschaltstation einzudringen und sie lahmzulegen – immerhin sind auch die nationalen Radio- und TV-Sender in Kirchberg ansässig, deren Kontrolle bei einem Umsturz entscheidend wäre –, ja einen Blackout in der halben Stadt zu provozieren, ließ nicht nur Verschwörungstheoretiker mutmaßen, hier sei kein Amateur, sondern ein Profi am Werk gewesen.

Der mysteriöse Gebrauch der Bezeichnung „Marder“ in der französischen Mitteilung (gesprochen: Mardär) fachte den Verdacht nur an, hinter der Strompanne stecke ein bewusster Sabotageakt einer bisher unbekannten, aber radikalen Untergrundzelle mit dem Namen „Marder“, und die Behörden betrieben eine Desinforma­tionskampagne, um die Wahrheit zu verschleiern. Warum sonst nicht einfach „la martre“ schreiben? Etwa weil „martre“ und „martyre“ nur ein kleines „Y“ trennt und im Zusammenhang selbst Leuten mit langer Leitung ein Licht aufgehen würde, dass der Marder in Wirklichkeit ein Selbstmordattentäter war? Schließlich verschweigt Creos nicht nur hartnäckig, wie er, Mission-Impossible-style, in die Station einsteigen konnte, sondern auch ob er die Aktion überlebt hat.

Andere sehen in der Strompanne schlicht die Ausläufer des internationalen Handelskriegs im kleinen Luxemburg. Denn wenn die US-Regierung Google zwingt, das Android-System auf Huawei-Telefonen auszuschalten, ein chinesischer Netzbetreiber Aktionär bei der Creos-Muttergesellschaft Encevo ist, die ihrerseits Anteile am Kommunikationsunternehmen Post hat, deren Konkurrenten diese Woche behaupteten, erste erfolgreiche Tests mit 5G-Technologie durchgeführt zu haben (ohne zu präzisieren, wer die Komponenten lieferte!), Pierre Gramegna immer neue chinesische Banken herholt und die Russen Belugawale zum Spionieren nach Norwegen schicken; also dann liegt wohl auf der Hand, dass es sich bei diesem „Marder“, um einen Agenten einer fremden Macht handelte, darauf abgerichtet und trainiert, das Stromnetz im politischen und geschäftlichen Nervenzentrum Luxemburgs zu hacken.

Angesichts dieser nahtlosen Beweiskette können nur vollkommene Realitätsverweigerer glauben, beim Marder von Kirchberg handele es sich um einen ansonsten unbescholtenen und possierlichen Nager, der eine gewöhnliche Panne verursacht habe. Oder solche PKW-Besitzer, die bereits Erfahrung mit der kleinkriminellen Energie der Marder gesammelt haben. Wer in den vergangenen Jahren seinem KFZ-Mechaniker viel Geld für die Reparatur diverser angeknabberter Leitungen gegeben hat, dürfte sich beim Vernehmen der Nachricht, von Schadenfreude überkommen heimlich ins Fäustchen lachend vorgestellt haben, wie das übermütige kleine Tierchen seine Pfötchen um ein besonders dickes, saftiges Stromkabel legte, frohlockend die perfiden Nagezähnchen ansetzte und ihm – bsst – nach einem kurzen Moment des Erstaunens der Pelz steil zu Berg stand. Das soll diesem Mardär eine Lehre gewesen sein!

Michèle Sinner
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