Der sozioökonomische Index der Gemeinden erfasst brisante Unterschiede zwischen ihnen. Vermutlich ändern sie sich kaum

Hier Weiler, dort Wiltz

Im Gemeinde-wahlkampf spielt Sozialpolitik allenfalls in Form von Versprechen auf erschwinglichen Wohnraum eine Rolle. Oder in p
Foto: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land vom 09.06.2023

Drei Monate vor den Gemeindewahlen 2017 gab der damalige LSAP-Innenminister Dan Kersch eine Pressekonferenz und stellte eine Publikation des Statec über den „Indice socio-économique des communes“ vor. Der Index ist Teil der Gemeindefinanzreform, die Kersch entworfen hatte und die seit Anfang 2017 in Kraft ist. Er wird vom Statec Jahr für Jahr aktualisiert und dient dazu, ein Zehntel des gemeinsamen Dotationsfonds der Gemeinden nach sozioökonomischen Kriterien zu verteilen. Im Jahr 2021 waren das knapp 225 Millionen Euro. Der größte Teil davon floss mit 40,5 Millionen an die Stadt Luxemburg, der zweitgrößte an Esch/Alzette (15,7 Millionen), der drittgrößte mit 11,8 Millionen an Differdingen.

Weil soziale Probleme relativ zur Bevölkerungszahl bestehen, sagt es noch nicht viel aus, wenn die drei größten Städte in dieser Reihenfolge auch die meisten sozioökonomischen Transfers erhalten. Interessanter ist, wie der Index zustandekommt. Und ob man an ihm erkennt, wie soziale Unterschiede in der Luxemburger Gesellschaft auf kommunaler Ebene und territorial verteilt wiederzufinden sind. Die Statec-Schrift resümierte 2017: Die Unterschiede zwischen den Gemeinden nähmen zu. „Ces phémonènes semblent même s’accentuer depuis la crise de 2008.“ Bei der räumlichen Entwicklung des Landes wirke eine „spirale défavorable“, welche die Tendenzen zur Segregation noch verstärkt.

Gut möglich, dass der Innenminister vom linken Flügel der LSAP damals nicht nur zeigen wollte, dass sein Transfer-System gegen diese Tendenzen angehe, sondern im Wahlkampf ein weiteres Thema zu setzen versuchte. Denn die fünf Komponenten, aus denen der Index sich zusammensetzt, sind griffig: der Medianlohn pro Gemeinde; die lokale Arbeitslosenrate sowie der Anteil der Revis-Bezieher/innen an der Bevölkerung, der Anteil der Alleinerziehenden (weil sie als besonders armutsgefährdet gelten) und der Anteil der laut der internationalen Klassifikation (Isco/CITP) gering Qualifizierten.

Das Statec beschrieb: Der mittlere Lohn reichte 2017 von 2 592 Euro in Reisdorf bis 4 821 Euro in Niederanven. Die Arbeitslosenrate variierte zwischen 2,6 Prozent in Bech und 13,2 Prozent in Esch/Alzette um das Fünffache, der Anteil der Sozialhilfeempfänger/innen an den Bevölkerungen um den Faktor 17 zwischen Heffingen und Wiltz, der Anteil der Alleinerziehenden um das Zweieinhalbfache zwischen Saeul und Heffingen. Gering qualifizierte Arbeiter waren in der Bevölkerung Viandens fünf Mal häufiger als in der in Weiler zum Turm (d’Land, 11.8.2017).

Besorgniserregend war die territoriale Synthese der Befunde: Die reichen Einwohner/innen des Landes wohnen in den Gemeinden rund um die Haupstadt in einem Gürtel, der im Westen bis nach Garnich, im Osten bis in den Kanton Grevenmacher reicht. Die armen Einwohner/innen dagegen leben in den traditionellen Arbeiterstädten im Süden, in Wiltz und in Ettelbrück sowie zwischen Echternach und Vianden entlang der Grenze zu Deutschland. Diesen Trend sahen die Statistiker/innen weiter fortschreiten. Schon 2013 hatte eine Untersuchung des Forschungsinstituts Liser über die „territoriale Kohäsion“ des Landes festgestellt, dass sich soziale Probleme in den Arbeiterstädten im Süden sowie in den kleinen Städten im Norden konzentrierten. Das Wort „Ghettoisierung“ fiel.

Eine Aussage darüber zu wagen, was sich gegenüber 2017 geändert hat, ist schwierig. Öffentlich ist der jährlich neu berechnete Indice socio-économique des communes nicht. Auf Anfrage gab das Innenministerium die Gesamt-Indexwerte pro Gemeinde von 2021 heraus. Das Statec hat seit der Veröffentlichung im Bulletin 2-2017 keine weitere zu dem Thema mehr gemacht. Das Innenministerium erklärte dem Land, die fünf Komponenten des Index „so nicht“ zur Verfügung zu haben. Das Statec teilte dazu nur das Nötigste mit und lehnte Auskünfte zu den Medianlöhnen in den Gemeinden ab: Die würden einer Fortsetzung der Publikation von 2017 zu entnehmen sein; wann sie erscheint, sei aber noch ungewiss.

Laut dem Index von 2021 sind die fünf am besten gestellten Gemeinden wie schon 2017 Weiler zum Turm, Garnich, Kehlen, Reckingen/Mess und Niederanven. In allen fünf aber hat der Index sich leicht verschlechtert. Auch die fünf 2017 am schlechtesten Gestellten waren es 2021 noch immer, doch nur in Wiltz und Vianden ist der Index 2021 leicht schlechter als der von 2017, während er in Esch/Alzette, Ettelbrück und Differdingen leicht besser ausfiel.

Selbst Vermutungen darüber anzustellen, woran das liegen könnte, scheint delikat. Zwei der fünf Datensätze, die das Statec zur Berechnung des Index nutzt, sind nicht nur seit 2016 dieselben geblieben, sondern mittlerweile zwölf Jahre alt: Die Anteile der Alleinerziehenden, beziehungsweise der niedrig qualifizierten Arbeiter/innen an den lokalen Bevölkerungen gehen auf die Volkszählung von 2011 zurück. Dass das Statistikinstitut noch nicht weiß, wann die Fortsetzung des Bulletin von 2017 erscheinen wird, liegt vor allem daran, dass die Auswertung der Volkszählung von 2021 noch läuft.

Für soziale Dynamiken in einer Gemeinde dürfte der Anteil gering qualifizierter Arbeiter/innen allerdings wichtig sein, denn sie verdienen weniger, sind stärker von Arbeitslosigkeit bedroht und können als working poor Bezieher des Revis werden. Die Arbeitslosenstatistik und die vom nationalen Solidaritätsfonds gesammelten Angaben zu den Revis-Bezieher/innen nähern das Bild vielleicht ein wenig an.

Die Arbeitslosenrate hatte im Index 2017 zwischen 2,6 Prozent in Bech und 13,2 Prozent in Esch/Alzette um den Faktor fünf varriert. Der Konjunkturaufschwung seit 2015 ließ die Arbeitslosigkeit landesweit sinken. Doch wenn sie 2021 in Esch/Alzette bei 10,9 Prozent lag, lag sie noch immer fünf Mal höher als in Bous und in Garnich (2%). Vergangenes Jahr ging die Arbeitlosigkeit weiter zurück, lag die lokale Rate in Esch bei 9,1 Prozent, aber noch viereinhalb Mal höher als in Betzdorf (2,2%); in Wiltz lag sie mit neun Prozent ganz ähnlich hoch wie in Esch.

Die Variation der Anteile an den Haushalten, die das Revis beziehen, scheint zwischen den Gemeinde ebenfalls leicht abgenommen zu haben, wie ein Vergleich der Bevölkerungszahlen des Statec mit den Revis-Daten des nationalen Solidaritätsfonds ergibt: 2017 differierten die Anteile der Revis-Haushalte um den Faktor 17, 2021 um den Faktor 16. Nach wie vor aber wird das Revis viel häufiger in Ettelbrück, Vianden oder Esch/Alzette bezogen und viel weniger in Garnich, Bech oder Weiler-zum-Turm.

Für die Änderungen im sozioökonomischen Index – er verschlechterte sich in sechs Gemeinden leicht, in ebenfalls sechs verbesserte er sich leicht – gaben am Ende womöglich Ortswechsel über Land einen wichtigen Ausschlag. Falls beispielsweise verhältnismäßig besser Verdienende wegen der Grundstückspreisentwicklung ihren Wohnsitz in Gemeinden nahmen, die sozioökonomisch weniger gut gestellt sind. Was vielleicht die nächste Statec-Schrift erläutern wird, die dann auch die Medianlöhne publiziert und sich auf eine zwei statt zwölf Jahre alte Volkszählung stützen kann.

Bis dahin dürfte es nicht verkehrt sein zu behaupten, dass sich an den territorialen Unterschieden wirtschaftlicher Potenz und sozialer Probleme nichts geändert hat. Dass es dazu wenig Daten gibt, das Statec Alleinerziehende alle zehn Jahre über die Volkszählung erfassen muss und nicht auf Daten der Steuerverwaltung über den Steuerkredit für Alleinerziehende zurückgreifen kann. Dass das politische Interesse an den sozioökonomischen Unterschieden sich in Grenzen hält, die Diskussion in dieser Legislaturperiode in die ziemlich akademische über das neue Leitprogramm zur Raumplanung verfrachtet wurde. Im Gemeindewahlkampf spielt Sozialpolitik allenfalls in Form von Versprechen auf erschwinglichen Wohnraum eine Rolle. Oder in perverser Form als Bettelverbot in der Hauptstadt. Viel ändern an niedrigen Einkommen und Armut kann kommunale Sozialpolitik nicht. Aber die Gelder aus der sozioökomischen Umverteilung nimmt natürlich jeder Schöffenrat gerne an.

Peter Feist
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