Der Drogentisch will sich des komplexen Problems im Bahnhofsviertel annehmen. Mehr Prävention ist dringend nötig

„Se kënnen net einfach verschwannen“

Demo im Bahnhofsviertel im September 2023
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 14.02.2025

„Ohne Unterlaß wußten die Zeitungen in den letzten Tagen von Verhaftungen geschlechtskranker Weibspersonen im Bahnhofsviertel zu berichten. (…) Zudem dürfte bekannt sein, daß diese traurigen Zustände nicht bloß im Bahnhofsviertel zu Luxemburg bestehen, sondern in allen größeren Ortschaften des Escher Minette-Bassins. Wann wird die Regierung Gesetze schaffen, welche eine wirksame Abhülfe dieser Zustände ermöglichen?“, fragte das Wort im Januar 1913. Abhilfe für den Abgrund des Seins und seine Auswüchse werden im Garer Quartier also seit mehr als einem Jahrhundert gefordert: Weg mit den Prostituierten, den Drogenabhängigen und denen, die ihnen Ware verkaufen.

Die schwarz-blaue Regierung will helfen. Sie hat den Drogen den Kampf angesagt. Vergangene Woche ist Innen- und Polizeiminister Léon Gloden (CSV) ein größerer medialer Coup gelungen. Während einer eilig einberufenen Pressekonferenz erklärte er den Fund von mehreren hundert Kilogramm reinem Kokain in einem kleinen Dorf im Norden des Landes als „großen Tag für unser Land und für Europa im Kampf gegen die Drogen“. Seitdem Léon Gloden das Sagen hat, haben sich die Großeinsätze im Bahnhofsviertel, in dem sich die Drogenkriminalität des Landes zentralisiert, mehr als verdreifacht. Das Polizeikommissariat in der Rue Glesener wird bald 24/7 geöffnet sein. Der DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer, die seit Jahrzehnten davon spricht, wie „untragbar“ die Situation im Viertel sei, passt das gut. Sie lobt den Minister, der im Gegensatz zu seinem grünen Vorgänger Henri Kox nun endlich ein „offenes Ohr“ für das Problem habe. In Antworten auf parlamentarische Anfragen erklären Justizministerin Elisabeth Margue (CSV) und Léon Gloden die verstärkte Polizeipräsenz zum Erfolg. Doch die WhatsApp-Gruppe, die von ein paar Anwohner/innen moderiert wird, hat die letzten Monaten keine Ruhe gegeben. Die Situation habe sich nicht verbessert, heißt es immer wieder. Die Garer sind nicht zufrieden und erhöhen den Druck auf die Politik.

Am 16. Januar hatte sich Patrick Reisdorff, Präsident der DP Gare und Mitglied der konsultativen Kommission für soziale Aktion von Luxemburg-Stadt, auf RTL über die Zustände in seinem Viertel aufgeregt. Darüber, dass er Drogenabhängige vor seiner Tür sitzen hat, die sich tagsüber einen Schuss setzen. Doch „die Garer“ seien nicht naiv, die Anwohner wüssten, dass sie die Drogenproblematik und die Prostitution nicht lösen könnten. Man wolle sie auch nicht loswerden, um dann den „Belairern und den Hollerichern“ das Problem unterzujubeln, sagte Reisdorff. Er war es, der zu einer Bürgermiliz aufrief, aus „Verzweiflung“, wie er mittlerweile sagt. Es sei eine Art letzter Ausweg. Kurz darauf schloss Lydie Polfer die Idee einer Miliz während einer Gemeinderatssitzung kategorisch aus, das sei ein „No-Go“. „Mit der Demokratischen Partei hat das überhaupt nichts zu tun und war auch nicht abgesprochen“, erklärt sie im Gespräch mit dem Land.

Auch um einer weiteren Entgleisung zuvor zu kommen, rief die Bürgermeisterin zum Drogentisch zusammen. Nachdem vergangene Woche die Familien-, Gesundheits-, Innen-, Polizei- und Justizministerien sich mit der Bürgermeisterin und Premier Luc Frieden getroffen hatten, wurden nun zum ersten Mal die Anwohner/innen gehört. Land-Informationen nach saßen etwa 30 Menschen anderthalb Stunden zusammen: Polizei, Gemeinde, der Innenminister und einige Bewohner. Justizministerin Elisabeth Margue konnte nicht teilnehmen, da sie in Paris auf dem KI-Gipfel war, sie ließ sich von hohen Beamten vertreten. Das Gesundheitsministerium nahm dieses Mal nicht teil – erstaunlich, handelt es sich doch um ein Problem der öffentlichen Gesundheit. Was genau besprochen wurde, darüber hüllten sich Polfer und Gloden nach der Sitzung in Schweigen. Ein Teilnehmer erklärte dem Land, während der Sitzung seien unter anderem die Möglichkeit einer verstärkten Fußpatrouille der Polizei besprochen worden. Die Anwohner finden, Polizisten in Dienstwagen brächten nicht viel. Auch der verstärkte Platzverweis soll ein Instrument sein, um die Umstände zu verbessern. Prävention habe Land-Informationen nach ebenfalls eine Rolle gespielt. Denn das Abrigado stößt an seine Grenzen, Rückzugsmöglichkeiten für Suchtkranke gibt es im Viertel immer weniger, vor allem abends und nachts. Wo es früher noch leere Immobilien gab, ist heute alles zubetoniert. Bis Ende März sollen diese Ideen konkretisiert werden, dann tagt der Drogentisch erneut. Dass bis dahin ein Lokal für sicheren Konsum gefunden wird, ist angesichts der Immobiliensituation in der Hauptstadt schwer vorstellbar. Findet man doch eins, wird das möglicherweise die nächste Bürgerinitiative lostreten, die keine Drogenabhängigen und Dealer neben ihrer Haustür dulden will.

Dass die Rhetorik um die Drogenabhängigen im Rahmen des Akzeptablen bleibt, darauf achten Polfer und Gloden. In ihrer Law & Order-Rhetorik streuen sie regelmäßig kleine soziale Zwinker. „Jedes Gramm auf dem Markt bedeutet menschliches Leid“, sagte Léon Gloden während der Pressekonferenz zum Kokain-Coup; die Situation sei eine Misere, erklärt Lydie Polfer. Es gilt, die Entmenschlichung der Suchtkranken nicht allzu sehr zum Vorschein kommen zu lassen. Doch der Unterton ist klar: Die wollen wir hier nicht. Vermehrt äußern die Anwohner des Viertels im Gespräch mit dem Land, wie das in diesem „reichen Land“ sein könne, man möchte diese Menschen „aus seinem Blickfeld weghaben“. Es erinnert an die Rhetorik, die auch während der Debatte um das Bettelverbot angeschlagen wurde.

Es waren allen voran Mitglieder der WhatsApp-Gruppe (757 Mitglieder), die am Montag gehört wurden, ebenso wie das Kollektiv der Nachbarn der Rue de Strasbourg. Differenziertere Stimmen, etwa die Elternvertreter/innen des Schulkomitees der Rue du Commerce, sind aus der Gruppe ausgetreten oder haben sich distanziert. Der Diskurs spaltet das Viertel. Dabei divergieren die Meinungen vor allem darin, ob eine Art Koexistenz angestrebt werden soll oder diese Menschen verschwinden sollen, erklärt Jean-Marc Cloos, Psychiater, Bewohner des Viertels und Mitglied der Grünen. Auf der anderen Seite reden sich Menschen in Rage, die verständlicherweise Blutspritzer, Spritzen, Kot und Urin vor ihrer Haustür nicht mehr ertragen können, deren Frust jedoch regelmäßig in reaktionäre Rhetorik und Stigmatisierung der Abhängigen und ihrer Drogenhändler umschlägt.

Die radikalen Tendenzen, die sich mitunter in der WhatsApp-Gruppe zeigten, finden auf Social Media ihre Echokammer. Unter Posts zur Sicherheitssituation plädieren Menschen, vor allem Männer, für Ausweisungen, für Null-Toleranz-Politik. Es gibt einen Einblick in die Art von Online-Raum, die die WhatsApp-Gruppe gewesen sein muss, bevor die Moderatoren begannen, die Inhalte zumindest ansatzweise zu filtern. Regelmäßig werden Fotos und Videos von Drogenabhängigen gepostet, die sich injizieren. Die offizielle Ansage lautet, die Gesichter dürften nicht zu erkennen sein. Was das Teilen dieser Inhalte an der Situation verbessern soll, ist fraglich.

Ein wunder Punkt ist, dass Dealer in einer scheinbaren Straffreiheit „nach einem Tag wieder an der gleichen Stelle stehen“. „Tatsächlich haben die Maßnahmen nicht immer die Resultate erzielt, die wir uns erhofft haben“, musste Lydie Polfer im Gemeinderat eingestehen. Ihr gehen die Optionen aus. Nun schiebt sie vermehrt der Justiz die Schuld an der Situation in die Schuhe: Die Staatsanwaltschaft verrichte ihre Arbeit nicht zur Genüge und würde viele Delikte nicht weiterverfolgen, erklärte sie vor knapp einem Monat auf RTL. Am Tag darauf erklärte die damalige Generalstaatsanwältin Martine Solovieff, bei der Justiz herrsche akuter Personalnotstand.

Die Diskussion wird wenig evidenzbasiert geführt. So entsteht im Narrativ der Einwohner der Eindruck, es gebe mehr Suchtkranke als zuvor, weil mehr Dealer auf den Straßen unterwegs sind. Der Drogenbericht 2024 bestätigt, dass die Zahl der 2 162 Personen, die als Drogennutzer mit hohem Risiko gelten, seit Jahren stabil bleibt. Die Daten deuten jedoch auch darauf hin, dass es mehr Gruppen von Suchtkranken gibt, die marginalisiert sind und weder mit Auffangstrukturen noch mit der Polizei in Kontakt kommen. Der Prozentsatz jener Suchtkranken, die kein Zuhause haben, steigt ebenso. Fast zwei Drittel der Nutzer sind in Luxemburg geboren, auch wenn sich die Szene durch den gratis öffentlichen Transport internationalisiert hat. Sichtbarer sind die Abhängigen mit Sicherheit geworden, auch weil ihr Konsum sich verändert hat: Sie nehmen mehr Kokain und weniger Heroin (80 Prozent nahmen 2010 Heroin; 2022 waren es 33 Prozent). Das Kokain wird acht bis zehn Mal täglich intravenös injiziert, erklärt Ute Heinz, Direktorin der Jugend- an Drogenhëllef. Das steht im Kontrast zur Heroinnutzung, die ein- bis zwei Mal täglich vonstatten geht.

Die European Union Drug Agency (Euda) warnt außerdem vor neuen synthetischen Substanzen, die durch internationale Netzwerke auf den Markt kommen. Diese new psychoactive substances (NPS) sind auch in Luxemburg angekommen; dem Nationalen Drogenbericht nach spielen sie bisher eine kleine Rolle. Synthetische Opiate wie Fentanyl, eine Substanz die in Nordamerika gesamte Viertel verwüstet hat, bleiben ebenfalls noch ein Randphänomen in Luxemburg. Doch sie könnten bald eine größere Rolle spielen, wie die Euda warnt – denn wie lange Heroin noch in dieser Form nach Europa kommt, ist fraglich. Die Taliban haben die Opiumproduktion im April 2022 in Afghanistan, wo der Großteil des Heroins für den EU-Markt herkommt, eingestellt.

35 Personen sind derzeit im sogenannten Diam-Programm eingeschrieben, das in Luxemburg-Stadt und Esch/Alzette medizinisches Heroin in Pillenform verabreicht. Es sind also etwas mehr als ein Prozent der Gesamtnutzer/innen mit hohem Risiko. Ute Heinz strebt den Ausbau dieses Angebots an. Denn für viele Abhängige scheitert die Teilnahme daran, dass man zwei Mal am Tag in der Stadt vorbeikommen muss und die Substanz nicht mit nach Hause nehmen kann, da es dafür keinen gesetzlichen Rahmen gibt. Diese Menschen sind oft in stabileren Lebenssituationen – allerdings kann auch das Projekt an sich für Stabilisierung sorgen. Weitaus mehr Heroinnutzer/innen sind in Methadon-Substitutionsprogrammen. Für Kokain gibt es kein Substitut. Die Politik hätte vor Jahren verstärkt in dezentralisierte, präventive Strukturen investieren müssen. „Diese Menschen brauchen Schutzräume, wo sie sich tagsüber aufhalten können“, sagt Ute Heinz, „verschwinden können sie nicht.“ Billig sind diese Räume nicht. Doch sie könnten dort helfen, wo Repression an ihre Grenzen stößt. Und um die Sichtbarkeit des Konsums etwas zu vermindern, auch im Hinblick auf die vielen Kinder, die im Viertel wohnen.

Das Bahnhofsviertel besteht heute sowohl aus sozial schwachen Familien die mieten und sich mit dieser Situation scheinbar arrangiert haben– deren Stimme man jedenfalls nicht vernimmt –, als auch aus einer gutsituierten Expat-Klientel, die für ihre Eigentumswohnungen reichlich Geld zahlt. Von diesen Leuten suchen genügend allerdings nach ein bis zwei Jahren das Weite, wie die Fluktuation an der Schule der Rue du Commerce zeigt. Und obwohl es immer noch einige alteingesessene Luxemburger gibt, stammen mittlerweile 82,11 Prozent der Garer aus dem Ausland, der höchste Anteil in der Stadt. Ihre Wahlbeteiligung bei den Gemeindewahlen kann die Stadt nicht beziffern. Schwer zu sagen, wer dort wie politisch tickt.

Nach dem Drogentisch vergangenen Montag erklärte Laurence Gillen den Mitgliedern der WhatsApp-Gruppe, die Besprechung sei eine „avancée significative“ gewesen. Man habe sich von den Verantwortlichen nicht nur gehört, sondern verstanden gefühlt. Alle Mitglieder sollen „mobilisiert“ und „zuversichtlich“ bleiben.

Sarah Pepin
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