Seit zwei Wochen ist der Bobësch zwischen Käerjeng und Sanem besetzt. Das Kollektiv Bobi Bleift! hat zwischen den Bäumen ein Camp aufgeschlagen,
um gegen die im Wald geplante Umgehungsstraße zu protestieren. Ein Widerstand, der keinen schnellen Erfolg verspricht

Begegnungen am Minetttrail (2) Warten auf die Rotkehlchen

d'Lëtzebuerger Land vom 29.07.2022

9.30 Uhr. Zwischen dem Laub singen Vögel, gedämpft klingt die ferne Straße durch die Bäume, über unseren Köpfen knackt Holz, geht ein Reißverschluss auf. Ritsch. Zwei Waldbesetzer liegen noch auf der Plattform, obwohl sie schon seit drei Stunden wach sind. Wenig später klimpert Metall und einer der beiden seilt sich ab. Susie bleibt noch ein paar Minuten oben, hängt sich ins Seil. Nur ein mit roten Mückenstichen übersätes Bein baumelt vor dem Stamm in der Luft, dahinter ein helles Lachen. Sie versucht, die Knoten zweier Seile zu verstellen, denn die Plattform hängt etwas schief, sodass ihre Füße nachts höher liegen als der Kopf. Andere Waldbesetzer sind am Morgen schon los zur Arbeit. Ameise sitzt auf einer Matte im Waldwohnzimmer. Die Augen noch verquollen vom Schlaf, die Füße ausgestreckt, die Kapuze des schwarzen Pullovers über dem Kopf, häkelt Ameise eine Decke aus Rot-, Rosa- und Orangetönen. Bald geht die Wolle aus. Susie und Ameise sind ihre Camp-Namen, sie wollen anonym bleiben, denn ihre Aktion ist illegal. Das Wohnzimmer besteht aus einem moosbewachsenen, unebenen Baumstumpf, darauf Insektenspray, ein halbes Ciabatta, eine Verbandstasche, ein Glas mit Studentenfutter, ein paar karierte A4-Zettel. Rund herum liegen Totholzbaumstämme, sie dienen als Sitzbänke, ein Campingstuhl, ein Haartrimmer. Bald sitzen alle drei in Kapuzenpullis um den Baumstumpf, reden über Tagesplanung und Zeckenbisse. „Ein Rotkehlchen“, sagt Susie und unterbricht ihren Satz. Neben uns reckt der kleine Vogel seinen roten Hals in die Höhe.

11.10 Uhr. Drei Polizisten tapsen auf das Camp zu wie kurz zuvor das Rotkehlchen – über Wurzeln und Blätter, fast lautlos. Sie drehen den Kopf nach links, rechts und unten. Genauso wie das Rotkehlchen bringen sie das Gespräch ins Stocken. Die drei Aktivisten springen auf, greifen nach T-Shirts, um sie sich um den Kopf zu binden, verknoten die Ärmel am Hinterkopf, der Halsausschnitt des T-Shirts lässt nur die Augenpartie frei. Ameise legt rasch einen Klettergurt an, befestigt sich mit Raupenknoten am Seil und zieht sich hoch auf die hintere Plattform, ein Beobachtungsposten. Susie, die ein Camouflage-T-Shirt um den Kopf trägt, duckt sich unter dem Banner am Campeingang hindurch, vor dem die Polizisten stehen bleiben. „Ihr braucht keine Angst zu haben. Wir kommen nur schauen“, schreibt Susie nachher in ihr Heft, es ist das Einzige, was die Polizisten sagen. „11.12 Uhr“ steht auch auf der Heftseite, und dass sie zu dritt kamen.

Sie schreiben alles auf. Auf dem Holzstamm neben dem Tisch liegt eine A4-Seite mit Spalten für jeden Tag. Workshops, Pressetermine, wer ist wann im Camp – all das wird organisiert. Diese Woche hat das Aktionskünstlerkollektiv Richtung22 eine Workshopreihe hier im Wald veranstaltet. Die Themen: Waldfotografie, kritischer Medienumgang, Kommunikation, Revolution. Dieses Wochenende werden Aktivisten von Youth4Climate nebenan ein Zeltlager aufschlagen, mit dem Motto „Camping for Climate“. Auf einem zweiten Zettel errechnen sie den Durchschnitt der Bisse, die die Zecken den Waldbesetzern pro Stunde bescheren. Ameise führt mit durchschnittlich 0,15 stündlichen Zeckenbissen: Das kürzlich abgelegte Mathe-Abitur hat Spuren hinterlassen. Jeden Tag suchen sie sich gegenseitig nach lästigen Bissen ab. Seitdem sie Insektenspray nutzen und den Saum der Jeans in dicke Tennissocken stecken, darüber Wanderschuhe anziehen, sind die Zeckenbisse weniger geworden.

Seit zwei Wochen campiert das Kollektiv Bobi Bleift! in einem Abschnitt des Bobësch zwischen Käerjeng und Sanem. Durch diesen Wald soll eine Umgehungsstraße gebaut werden, um den Verkehr auf der Durchfahrtsstraße in Käerjeng zu entlasten. Das Bauvorhaben steht seit vielen Jahrzehnten auf der Agenda von Transportministerium und der Gemeinde Käerjeng. Ebenso alt wie das Bauvorhaben ist auch der Protest dagegen. Die Biergerinitiative Gemeng Suessem (BIGS) und der Mouvement Ecologique haben sich dagegengestellt. Bisher waren alle Proteste erfolglos. Erst vor kurzem ist die Umgehungsstraße wieder im neuen Plan National de Mobilité (PNM) aufgeflackert. Die Waldbesetzung soll nun das Zünglein sein, das die Transportplaner zum Umdenken bewegt. Das Camp im Wald ist die punktuelle Antwort auf eine gewachsene Notlage und ein Protest gegen die Zerstörung der Natur. Damit reiht sich der Bobësch in eine Liste vor allem deutscher Wälder, die ähnliches erlebt haben: der Dannenröder Forst, der Wald bei Trier, der Hambacher Forst. Doch anders als im Hambacher Forst stehen hier noch keine Bagger am Waldrand. Der Knall in Käerjeng soll wirken, bevor es zu spät ist.

Schon vergangene Woche waren drei Rotkehlchen vorbeigekommen, in Gestalt der Administration de la Nature et des Forêts (ANF). Die ANF kontrollierte, ob die Waldbesetzer gegen Naturschutzgesetze verstoßen. Mehr sagten auch sie nicht, flatterten schnell wieder den Weg hinauf und schrieben anschließend in ihren Bericht: „Die negativen Eingriffe in das natürliche Umfeld und die Artenvielfalt sind minimal.“ Das Umweltministerium schloss daraus, dass die Personen vor Ort nicht gegen das Naturschutzgesetz verstießen. Darauf achtet das Kollektiv. Sie nutzen keine Gaskocher, machen kein Feuer, haben eine Recyclingstation für Mülltrennung eingerichtet, klemmen Teppiche zwischen die Bretter der Plattformen und die Baumstämme, um die Rinde vor Reibung zu schützen.

Ein gutes Jahr lang hat Bobi bleift! Luxemburgs erste Waldbesetzung vorbereitet. Sie sind durch Deutschland gereist und haben dort von anderen Waldbesetzungen gelernt, vom Hambacher Forst und vom Kollektiv Besch bleibt! in Trier, das sich gegen die Autobahnerweiterung „Moselaufstieg“ wehrt. Deutschland hat mehr als 15 solcher Waldbesetzungen in den vergangenen Jahren erlebt. Hambi bleibt! war die Spektakulärste. 2012 baute das Kollektiv im Hambacher Forst zwischen Köln und Aachen die ersten Baumhäuser auf, um sich der Rodung durch den Energiekonzern RWE entgegenzustellen. RWE will dort Braunkohle fördern. Immer wieder wurde das Camp von der Polizei geräumt, oft eskalierte die Situation gewaltsam und wenig später wurde das Camp wieder aufgebaut. 2018 sollte ein großer Polizeieinsatz, von der nordrhein-westfälischen Landesregierung angeordnet, das Chaos beenden. Dabei kam ein Journalist ums Leben. Kurz darauf stoppte ein Gericht die Rodung auf Eilantrag vorübergehend. Seitdem hängt die Entscheidung in den Instanzen der Gerichte fest. Das Ziel des Protests hat sich in den Jahren vom Hambacher Forst hin zu einem generellen Widerstand gegen die Braunkohle entwickelt. In Frankreich haben ähnliche Bewegungen etwa zeitgleich wie in Deutschland angefangen. Die Zones à Défendre (ZAD) haben 2010 mit dem Widerstand gegen den Bau des Flughafens Notre-Dame-des-Landes im Norden von Nantes Einzug gehalten. Die Pläne für den Flughafen wurden schließlich 2018 fallen gelassen. Inzwischen haben Aktivisten im ganzen Land verteilt weitere ZAD errichtet. Erfahrungen aus den Nachbarländern sagen voraus: Susie, Ameise und die anderen Waldbesetzer können sich auf einen langen Winter einstellen. Die Aktivisten im Hambacher Forst waren neun Jahre vor Ort, einige sind es immer noch.

Darauf sind sie vorbereitet. „Nächstes Jahr sind ja auch Wahlen“, sagt Susie. „Da sehen wir eine Möglichkeit, dass sich an dem Plan für die Umgehungsstraße noch etwas ändern wird.“ Einige der Aktivisten sind noch in der Schule, andere suchen zurzeit nach einem Studienplatz, verlassen zum Semesterbeginn voraussichtlich Luxemburg. In den kommenden Monaten müssen sie Anhänger gewinnen. „Wir hoffen, dass es Menschen gibt, die das hier dauerhaft übernehmen können“, sagt Ameise. Fast täglich beantworten die Waldbesetzer mittlerweile Presseanfragen, sodass das Thema bald auch im ganzen Land angekommen sein dürfte. „Das ist nicht Lokalpolitik“, sagt Ameise. „Das betrifft uns alle. Die Klimakrise betrifft alle.“ Auf Waldrundgängen bringen sie, gemeinsam mit der BIGS und anderen Naturschutzvereinigungen, Interessierten das ökologische Biotop des Bobësch nahe. Sie veranstalten offene Treffen und Workshops im Wald. Mit dem Konzept der offenen Treffen haben die Aktivisten im Hambacher Forst viele Unterstützer herangezogen. Susie freut sich über das Interesse der Anwohner: Viele Väter mit Kindern kämen, um ihren Kindern das Camp zu zeigen und sich auszutauschen. „Es sieht gerade aus, als hätten wir große Unterstützung in der Gesellschaft. Da könnte ein Umdenken kommen“, hofft Susie.

Auf institutioneller Ebene bleibt es trotz des medialen Aufwindes ruhig. Wegen des Camps im Bobësch hat bisher noch kein Politiker, Polizist oder Kommunalbeamter seinen Sommerurlaub abgebrochen. Sie schicken nur die Rotkehlchen, die kaum einen Satz herausbringen und ohne Gruß wieder davonschleichen. Niemand sucht den Dialog mit dem Kollektiv, Partizipation war bei dem Thema nie erwünscht. Dabei trägt der Wald als Teil des Minett seit zwei Jahren das Label UNESCO Biosphäre, ist Teil eines internationalen Netzwerkes, das das Ziel hat, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die die Bedürfnisse von Mensch und Natur gleichermaßen vertreten. Ebenso hebt das Transportministerium in seiner Werbekampagne für den PNM die Bürgerbeteiligung als zentrales Werkzeug hervor. In Käerjeng mussten die Bürger ihre Beteiligung aufzwingen, bisher jedoch ohne ernst genommen zu werden. „Seit Jahrzehnten wird versucht, diese Umgehungsstraße mit allen bekannten Mitteln zu bekämpfen“, sagt Ameise. „Wir machen das, weil alles andere nichts gebracht hat.“ Der große Unterschied zum Hambacher Forst: Die Bedrohung ist bisher nur auf dem Papier. Bobi bleift! ist ein Warncamp, ein Protest, der nicht eine unmittelbar bevorstehende Bedrohung verhindern möchte, sondern ein Mittel, das Interesse der Öffentlichkeit auf das Thema zu richten. „Wenn noch keine Firma bezahlt ist, noch keine Gesetze erlassen sind, ist es einfacher, ein solches Projekt aufzuhalten. Wenn die Bagger da stehen und vielleicht schon einen Teil des Waldes niedergemacht haben, ist es schwer das zu stoppen“, erklärt Ameise. Mit dem Gedanken orientieren sie sich an den Trierer Aktivisten. Im Hambacher Forst standen die Bagger am Waldrand, ein Notfall, der eine Notfallintervention verlangte. Doch ebenso ist, in den Augen der Umweltschützer und Klimaaktivisten, die Klimakrise zu einem Notfall angewachsen. Der Bobësch steht für alle Wälder.

Franziska Peschel
© 2024 d’Lëtzebuerger Land