Rewenig, Guy: Der echte Kanufahrer rudert mit den Händen

Tödliche Treffsicherheit

d'Lëtzebuerger Land vom 11.10.2001

"Wenn die Fantasie nicht diese Wirklichkeiten als Reibfläche und Bleigewicht hat, ist sie ankerlos, fliegt fort und wird beliebig", sagt Günter Grass in einem Gespräch, das Die Zeit in ihrer literarischen Sonderbeilage zur Frankfurter Buchmesse abdruckte. Damit rechtfertigt Grass erneut, dass er sich jahrzehntelang als verantwortungsvoller Bürger und Schriftsteller eingemischt hat, realitätsbezogen, einfallsreich auf die Zeitläufte und Fehlentwicklungen einwirkend. Vielleicht ungewollt schießt er mit seinem ethischen Postulat auch einen Pfeil in Richtung jener deutschsprachigen Autoren, die sich zeitentrückt im Elfenbeinturm elitär einrichten oder sich an altbekannten unverbindlichen Sprachspielchen ergötzen oder, in postmoderner Innerlichkeit schwelgend, narzisstische Nabelschau betreiben. 

Guy Rewenig muss sich von solchen Vorwürfen nicht getroffen fühlen. Seine beiden Bücher Der echte Kahnfahrer rudert mit den Händen und Dein Herz aus Eis macht mich ganz heiß würden dem Nobelpreisträger sehr gut gefallen. Ihr Autor versagt sich nämlich nicht der Wirklichkeit, im Gegenteil: Alle satirisch in Angriff genommenen Themen entnimmt er mit sezierendem Zugriff konkreten Erfahrungsbereichen; es sind genau skizzierte Realitäten, an denen sich die reichlich aufgebotene Fantasie Guy Rewenigs kritisch-sensibilisiert entzündet. 

Er verfolgt sein Schreibziel, das in beiden Büchern identisch ist, mittels gestraffter textlicher Kurzformen. In ihrer ausgeprägtesten Verknappung meißelt er sie zu geschliffenen einsätzigen Aphorismen. Die gelben Strichmännchen, die bei beiden schön gestalteten Büchern, mal auf grünem, mal auf blauem Grund, irre Kopfstände vollbringen und kreuz und quer über die Fläche tanzen, entsprechen der Sprachakrobatik des Autors. Er spielt mit Sinn und Widersinn, stülpt die Logik unordentlich um und um, und neue Erkenntnis leuchtet einem ein. Er dreht und wendet die Wörter, klopft geläufige Redensarten ab, nutzt genüsslich das Paradoxon als decouvrierendes Stilmittel, und sogar im Nonsens offenbart sich nachdenkenswerter Tiefsinn. Bislang eindeutige gesicherte Wortfelder verwandeln sich - und damit die Wirklichkeit - in verunsichernde Mehrdeutigkeiten.

Da Satiriker von Hause aus unverbesserliche Moralisten sind, laufen sie stets Gefahr, auch oberlehrerhaften Verkündungsposen zu verfallen. In diese Fallen tappt Guy Rewenig mitnichten; denn er definiert sein satirisches Handwerk wie folgt: "Der gute Satiriker lässt immer durchblicken: Ich nehme mich selber auf den Arm. Das gibt seinen Satiren die tödliche Treffsicherheit." Selbstironisch hat er als Untertitel "Lappalien" und "Fußnoten" gewählt; so stapelt er gewitzt tief, lässt Luft ab, um nicht als aufgeblasener Besserwisser zu gelten. 

Die amüsante, aber zumeist seitenweise beklemmende Lektüre zeigt unseren scharfzüngigen, sprachgewandten Analytiker mit oft makabrem Ernst bei lebensbestimmenden Themen: Verstörte und zerstörte Liebesbeziehungen, verdrängter Tod, krisenzeugender Fortschritt, bedrückende Vergänglichkeit, wachsende Umweltbedrohung, verfehlte Politik, Alltagsdramen im "Menschlich, allzu Menschlichen." 

Rewenig wäre kein waschechter Luxemburger, nähme er nicht sein Großherzogtum aufs Korn: "Heimatland, einziger Sportplatz, wo die Unbeweglichkeit eine athletische Disziplin ist". Den "Sozis" wischt er tüchtig eins aus: "Die Sozialdemokratie kämpft militant für das Recht der Utopie, eine Utopie zu bleiben." Allen Fundamentalisten beweist er, dass sie auf dem Holzweg sind: "Das Dogma 'Jedes Dogma ist anfechtbar' ist unanfechtbar." Er weiß auch äußerst praktische Ratschläge zu erteilen, so zu einem gesunden Lebenswandel: "Man sollte nie ein Blatt vor den Mund nehmen, das nicht chlorfrei gebleicht ist." Alle leichtgläubigen Globalisierungseuphoriker warnt er: "Wenn das Schiff sinkt, rufen die Kapitalisten: Keine Panik, Leute! Dies ist nur unsere neueste Unterwassererlebnisfahrt!" 

Unwiderstehlich packt einen die Lust, aus beiden Ausgaben zu zitieren (wobei die zweite etwas anregender ist, weil manche Pointenverdoppelung, manche unnötige Textlänge der ersten vermieden wurden). Beide Bände lassen sich wegen ihres handlichen Formates leicht in die Jackentasche stecken. So kann man sie wie ein Brevier, wie ein Stundenbuch mit sich führen und darin lesen, um aufgerichtet zu werden, falls man das Rückgrat zu verlieren droht. Darob noch diese Zugabe: "Früher Maoist, heute Akupunkturist: Nach wie vor unbestechlich auf der Suche nach den neuralgischen Punkten im System".

 

Guy Rewenig: Der echte Kanufahrer rudert mit den Händen. Lappalien; Graphiti D-4, 94 S., 2000, 480 Franken; Dein Herz aus Eis macht mich ganz heiß. Fußnoten; Graphiti D-5; 94 , 2001, 480 Franken; Éditions Phi, Echternach

 

 

 

Fritz Werf
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