Luxemburgensia

Noch ein Yolanda-Epos

d'Lëtzebuerger Land vom 06.09.2001

"Ein romantischer Autor ist ein Autor, der gewohnheitsmäßig auf unbegründeten Reisen unterwegs ist", entscheidet Peter Hacks (Zur Romantik, Hamburg 2001, S.128). Nur wenige Jahre vor einem anderen gewohnheitsmäßig und unbegründet Reisenden, dem ziemlich selbsternannten Chevalier L'Évèque de la Basse Moûturie, besuchte um das Revolutionsjahr 1830 ein junger Engländer das neue Großherzogtum. Wieder zu Hause, veröffentlichte er im Jahr des liberalen Reform Act 1832 ein Buch: Iölande, A Tale of the Duchy of Luxembourg; and other Poems im Verlag T. Cadell, Strand; and W. Blackwood, London und Edinburgh.

Dichten war zu der Zeit der standesgemäße Zeitvertreib eines englischen Gentlemans, Prosa eher ein minderwertiges Produkt von Frauen und niederen Ständen. Anfang des 19. Jahrhunderts verbreiterte sich der Literaturmarkt in England und Schottland, Fortschritte der Drucktechnik vergrößerten die Buchproduktion. Das Dichten und Veröffentlichen von Gedichten erreichte mit den napoleonischen Kriegen epidemische Ausmaße.

Iölande scheint von einem ausgedehnteren Besuch auf dem Kontinent inspiriert und enthält die Gedichte The Castle of Landeck. A Scene in the Tyrol (S. 64-79), Piers Cockburn. A Scottish Ballad (S. 81-93), Isabel. A German Ballad (S. 95- 104) und The Glove. A Translation  from Schiller (S. 105-111). Doch mehr als die Hälfte des 111 Seiten starken Bandes nimmt das Titelgedicht Iölande (S. v-64) über die Grafentochter aus Vianden ein.

Das lange epische Gedicht zählt mit 1060 Versen unterschiedlicher Länge  immerhin mehr als ein Sechstel des Umfangs der erst vor zwei Jahren wiedergefunden mittelalterlichen Handschrift von Bruder Hermanns bekanntem Yolanda-Epos. Dennoch ist es sowohl Angela Mielke-Vandenhouten unbekannt, die in Grafentochter-Gottesbraut (München, 1998) eine Bibliographie "weitere(r) Beschreibungen von Yolandas Leben" (S. 350) aufstellt, als auch Richard H. Lawson, der Brother Hermann's Life of the Countess Yolanda of Vianden (Drawer, 1995) in englische Prosa übersetzte.

Der Einführung (S. v) ist zu entnehmen, dass der Autor während seines Luxemburg-Aufenthalts über das Leben der mittelalterlichen Yolanda bei Bertholet las, das Gedicht später aber aus der Erinnerung schrieb. So ist vielleicht zu erklären, dass er beispielsweise das Marienthal an das Moselufer verlegt (S.  vi) und die von Bertholet abweichende Schreibweise "Iölande", bzw. "Iolande" in der Einführung bevorzugt.

Jean Bertholet erzählt in Band fünf seiner Histoire ecclésiastique et civile du Duché de Luxembourg et Comté de Chiny (Luxemburg, 1743) die Geschichte Yolandas (S. 10-40), wie sie auch aus Hermanns Epos bekannt ist: die reiche Adelige aus Vianden, die sich von Kindesbeinen an als von Gott berufen fühlt und allen Versuchen ihrer Mutter widersteht, die ihr ein standesgemäßes (Ehe-)Leben aufzwingen will, bis sie ins arme Dominikanerinnenkloster von Marienthal eintreten darf.

Allerdings greift der Autor von Iölande Bertholets Yolanda-Beschreibung nur als Motiv auf, um sich, wie er in der Einführung einräumt, dichterische Freiheiten herauszunehmen (S. v). Er streicht sowohl die gesamte, die religiöse Auserwähltheit beschreibende Kindheitsgeschichte Yolandas, als auch die dominierende Rolle der Mutter. Stattdessen setzt sein Gedicht in der Mitte von Bertholets Bericht ein, mit den Heiratsvorbereitungen unter dem tyrannischen Vater. Und meint Yolanda bei Bertholet Gott, wenn sie ruft: "C'est envain, ma mere, que vous songez à me marier. Je suis déjà engagée, & je n'abandonnerai jamais l'Epoux dont j'ai fait choix" (S. 16), so meint der junge englische Romantiker mit diesem idealen Gatten einen edlen, jungen Ritter, den heimlichen Liebhaber Iölandes, den sie am Ende heiraten darf: Conrad of Brandenburg (V. 56), nach der schaurig schönen Burgruine, die der Autor bei seinem Luxemburg-Aufenthalt besucht hatte.

Denn Iölande im Kloster verschwinden zu lassen, schien gegen die religiösen Überzeugungen des Autors zu verstoßen. Dass er überzeugter Anglikaner in einer Zeit der katholischen Emanzipation (1829) war, geht aus einer Notiz zu Vers 56 und 57 hervor, wo er die heiligen Bonifazius und Willibrord als "two English monks, famous for false miracles and priestcraft" abkanzelt. Auch die Kreuzzüge beschreibt er nicht gerade mit Sympathie: "Fanatic zeal had lit the flame, / From Palestine the hermit came-" (V. 134-135). Und schließlich bleibt die anscheinend so schöne Iölande durch den Verzicht auf einen bei Hermann und Bertholet gefeierten unsterblichen Gatten und durch die Erfüllung ihrer irdischen Liebe auch der Männerwelt erhalten und das männliche Selbstwertgefühl des Autors damit unverletzt.

Erstaunlicherweise wirkt Bertholets ein Jahrhundert älterer Bericht geradezu aufregend und spannend - etwa wenn die Mutter sich mit ihrer Tochter prügelt  oder das Kloster stürmen lässt - im Vergleich zu Iölande, das als eine Anhäufung von Stereotypen und Topoi romantischer Rittergeschichten erscheint. Nur bei der Auflösung des Konflikts geht es dramatischer zu als bei Bertholet. Denn heißt es bei Letzterem knapp: "Sur ces entrefaites le Cavalier, à qui elle avoit été promise, épousa une autre Demoiselle." (S. 34), so liefern sich die beiden Rivalen in Iölande das unvermeidliche Turnier.

Werben der mittelalterliche Dominikaner Herrmann und der barocke Jesuit Bertholet für die Vorzüge des Klosterlebens, so besingt der romantische Iölande-Dichter des frühen bürgerlichen Zeitalters das seinen Gefühlen gehorchende und sein Leben selbst bestimmende Individuum in ritterlicher Verkleidung. Doch die romantische Sehnsucht nach dem Mittelalter ist auch eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Umbruch der französische Revolution und der beginnenden Industrialisierung, die Sehnsucht nach der alten Ordnung des Erbadels und der Stände. Die Conclusion klagt aber andererseits: "Ay, such were the days of the proud chivalry, / So fraught with oppression and foul tyranny" (V. 1024-1025).

Auch andere Anachronismen oder Zeitbezüge tauchen auf: der mittelalterliche Ritter leidet schweigend wie ein erst mehr als zwei Jahrhunderte später durch Columbus bekannt gemachter Indianer (V. 192). Und fällt bei Bertholet niemals der Name des für Yolanda auserwählten Bräutigams, so heißt er im Iölande-Gedicht von 1832 Count Albert of Metternich (V. 38). Wodurch eine politische Note hineinkommt, da seit dem Wiener Kongress Fürst Klemens Lothar von Metternich (1773-1859), der laut Einführung "possesses wide estates in the duchy of Luxembourg, especially Burtschied", eine entscheidende Rolle bei der Restauration in Europa spielte. Im freiheitsliebenden romantischen Gedicht endet ausgerechnet ein Metternich tragisch: "Then knight and courser strew'd the ground, / And stream'd the red blood from his wound / As sunk in death he lay." (V. 783-785) 

Schließlich fehlt es dem Autor nicht an Vorbildern. Das Buch beginnt mit einem Zitat aus Lord Byrons (1788-1824) Childe Harold's Pilgrimage und  ist Sir Walter Scott (1771-1832) gewidmet. Damit erklärt sich der Autor gleich beiden konkurrierenden Modeautoren der englischen Romantik verbunden: Ein wenig wie der teilweise geächtete Byron und dessen Held Childe Harold reiste er durch Europa, und wie Scott, der im Erscheinungsjahr von Iölande starb und dessen vielfach verfilmter Ritter Ivanhoe bis heute bekannt ist, idealisierte er das Mittelalter.

Das Buch ist ohne Autorenangabe erschienen. Weder der British Library Catalogue, noch der British Poetry of the Romantic Period Catalog der Stanford University Libraries oder der National Union Catalog der nordamerikanischen Bibliotheken lösen das Anonymat auf. Rückschlüsse auf Herkunft, Geschlecht, Alter und Glauben des Autors erlaubt lediglich die Notiz zu Vers 56 und 57: "we were two English Protestants" und "those young men".

In der Einführung zum Gedicht heißt es: "during a short stay that I made some time since at the house of a nobleman in that highly picturesque Country". Am Schluss des Gedichtes lobt der Autor: "'Neath the towers of Berg, where the true baron dwells, / Whose frankness of heart, as a generous lord, / Bids welcome each guest to his banquet and board; / While all by the bountiful host is supplied / Without the display of parade or of pride; / And the baron's free wit, and his humour and mirth, / Flow fast round the guests that encircle his hearth." (V. 1 033-1 039). Möglicherweise handelt es sich hierbei und in den weiteren Lobversen über die Baronin um einen literarischen Dank für die Gastfreundschaft, die der Autor auf Schloss Berg genoss. L'Évèque de la Basse Moûturie berichtet zwölf Jahre später  - kurz vor dem Verkauf des Schlosses an den Großherzog - über "le château de Berg, habité par Mr le baron de Dommartin, propriétaire des forges et des moulins". (Itinéraire du Luxembourg germanique, Luxemburg 1844, S. 379)

Aus der Notiz zu Vers 56 und 57 geht außerdem hevor, dass der Autor und sein Reisegefährte in Begleitung eines Barons Brandenburg besuchte - möglicherweise des Barons von Berg. Laut Einführung bewunderte der Autor auch "the very romantic and striking ruins of that old feudal fortress" von Vianden, wo ihm die Idee zu dem Gedicht gekommen sei (S. v).

Wann genau die beiden jungen Engländer sich in Luxemburg aufhielten, ist nicht bekannt. In der Einführung heißt es lediglich "some time since". In der Notiz zu Vers 56 und 57 erzählt der Autor von seinem Besuch in Brandenburg: "While admiring the ruins of this magnificent baronial castle, we were joined by the priest of the village, a fine old man of eighty years of age, excepting two months and three days, as he informed us, with a fractional accuracy important on arriving at the age of four-score." Laut M. Michels Die Geistlichen Luxemburgs seit 1801 (Luxemburg, 1940) war vom 15. Mai 1818 bis zum 1. November 1854 Johann Peter Alexander aus Arsdorf Pfarrer in Brandenburg - was allerdings schwerlich zu der zitierten Altersangabe passt.

Iölande, A Tale of the Duchy of Luxembourg

Romain Hilgert
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