Jacoby, Lex: Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein

Aus der Stammbaumschule gesprochen

d'Lëtzebuerger Land vom 13.09.2001

Nicht nur, weil es sich bei der Besprechung des eben in den Éditions Saint-Paul erschienenen Buches Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein von Lex Jacoby nicht um eine leichtfertige Indiskretion, sondern vielmehr um eine Sprachtextur von hoher literarischer Vollendung handelt, wird in ihrem Titel ausdrücklich aus der Stammbuchschule gesprochen und nicht etwa geplaudert, wie es die ungeschriebene Ausdrucksregel geböte. Und dennoch, dieses immerhin 330 Seiten dichte dichterische Werk, das der Autor wohl absichtlich und zu Recht nicht auf eine Gattung à la Reportage, Erzählung oder Roman festnagelt, dürfte durchaus, ungeachtet der weiterhin grassierenden Talkshow-Pest, als Plauderei auf beachtlichem sprachlichen Niveau durchgehen.

Ein Gipfel deutscher Prosa aus Luxemburg

Es hat, seit sich im kleinen Luxemburg um Literatur in deutscher Sprache bemüht wird, einige im größeren deutschen Sprachraum leider immer noch nicht annähernd gerecht bewertete Höhen gegeben; zumal seit sich das Literaturschaffen im Großherzogtum zunehmend professionalisiert, setzt es hier zu Lande in deutscher Sprache Literatur, die den Vergleich mit handelsüblicher deutscher, österreichischer, schweizerischer Verlagsware nicht zu scheuen brauchte - es gebricht allenfalls am verlegerischen Marketing und der dadurch bedingten multimedialen Präsenz, vielleicht verfügen die Autoren auch nicht über das nötige Selbstbewusstsein oder die auch in dieser Branche gebotene Chuzpe, vor einem breiteren Publikum aufzutreten, sich nach Maßgabe ihres Könnens und Wollens öffentlich darzustellen.

Gemessen an einigen Altersgenossen oder zeitgenössischen Kollegen, die sich durchaus darauf verstehen, gelegentlich dank ihrer Haupt- und Nebenschriften einigen Rummel um ihre Person und ihre Produktion zu veranstalten, zählt ein Lex Jacoby, seit Jahrzehnten bereits eine "valeur sûre" der hiesigen Literaturszene, zu den eher Stillen im Lande. Den Éditions Guy Binsfeld und ihrem seinerzeitigen Lektor Georges Hausemer kann nicht hoch genug angerechnet werden, vor Jahrzehnten bereits Jacobys opus magnum, das Logbuch der Arche herausgebracht zu haben; aber auch dem seinerzeit mit hohen literarischen und buchhändlerischen Ansprüchen gestarteten Guy Binsfeld ist es nicht gelungen, dieses nachweisliche Meisterwerk über die engen Landesgrenzen hinweg zu hieven.

Und so ist es gekommen, wie es für die meisten Luxemburger Schreiber und ihre Arbeiten hat kommen müssen: Jacoby hat zwar weiter gute Bücher geschrieben, doch mangels professionellen Lektorats und wegen dilettantischer einschlägiger Betreuung hat auch er sich verlegerisch verzettelt. Ein Wunder bloß, dass ihm trotz des vor Literaturort herrschenden editorischen Leichtsinns und medialer Vernachlässigung im Laufe der Jahre eine ständig größere und treuere, eine fast verschworene Lesergemeinde zugewachsen ist. 

In Lex Jacoby wiederholt sich, wenn sie auch kategorial nicht miteinander verglichen werden können, das literarische Los eines so ausgewiesen brillanten Stilisten wie Pol Henkes. Der Name und Wertbegriff Pol Henkes wird an dieser Stelle mit Vorbedacht ins Spiel gebracht: der Lyriker Henkes hat mit Kopfstimme Gedichte, ja, ganze Gedichtzyklen geschrieben, die an Vorbildern wie Rilke, Hofmannsthal oder George geschult und geschliffen waren; Henkes hat sich in der Prosa - ins Erzählen und Fabulieren geraten - immer wieder aufs köstlichste selber in Frage zu stellen und auf den Arm zu nehmen gewusst. 

Auch Lex Jacoby mag mancheiner vorwerfen, er sei ein bisschen "vieux jeu", doch eine so gute wie die Jacobysche deutsche Sprache ist immer wahr, ist immer neu, ist immer Kunst, die Lust an sich hat oder aus sich selber bezieht, die dafür aber nicht alsogleich in Selbstbewunderung erstarrt, sondern sich, wo immer möglich, über sich lustig zu machen versteht.

Stammbaumforschung als  Stickrahmen

Wiederum ein Muster-, nein, geradezu ein Meisterbeispiel für das großartige Schreibtemperament Lex Jacobys stellt neuerdings das Werk Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein vor. Jawohl, hier wird erzählt, erzählt, erzählt, was immer das Zeug hält. Eventuell gingen diese 330 Buchseiten als Chronik der von einem gewissen Frank Dellarue angestellten Versuche durch, den mittlerweile tief in der Geschichte verwurzelten und weltweit verzweigten, verästelten Stammbaum seiner ursprünglich eher winzigen, bescheidenen, ärmlichen Familie zu erarbeiten. Nur, erzählt wird hier fast wie in Urzeiten oder heutzutage nur noch in morgenländischen Regionen, wo auf Märkten meist blinde Berufserzähler schreib- und leseunkundige Menschen um sich scharen und mit auf Phantasie- und Märchenreisen nehmen. 

Deshalb ist ein Buch mit dem alsogleich poetisch-programmatischen Titel Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein wohl am triftigsten mit dem modernistischen Begriff "Conférence" umschrieben. In der Tat kommt sich der Leser vor, als säße er in einem Rund mit anderen Hörern, lauschte bezaubert dem von sich und seiner Erzählung alsbald mitgerissenen Fabulierer und wehrte sich erst gar nicht, in Sphären entführt, entrückt zu werden, die nicht mehr ganz von dieser Welt und doch öfter als ihm lieb sein mag durch und durch irdischer Natur sein können. 

Wie beim Humoristen, beim Ironiker Lex Jacoby nicht selten, schreckt der Erzähler Frank Dellarue, der als Grafiker mit der zeichnerischen Illustration des Reisebuches eines Kollegen beschäftigt ist, wenn sich seine Fabel mit allzu dräuendem Ernst aufzuladen droht, im letzten Augenblick zurück, bricht seinen Satzperioden durch eine schier heinesche Volte oder Pointe, durch Wiederholung eines verblüffenden Sprachschnörkels die Spitze und lässt so die Sprache immer wieder virtuos in sich selber wie ein Echo nachhallen und nachschwingen; Zweck dieser essenziell lyrischen, aber auch leicht und lustvoll launischen, gauklerischen Technik ist es, der Prosa nicht zu gestatten, sich mit zuviel Sentiment vollzusaugen; sich sprachlich virtuos ausleben und dennoch auch immer wieder selbstironisch ausbremsen, das macht kein auch so notabler Luxemburger oder deutscher Schriftsteller Lex Jacoby nach.

Die Weltläufigkeit der Provinz

Es ist schwer zu entscheiden, was an Lex Jacobys neuerlich filibusterndem Sprachgespinst am stärksten mitreißt und am nachhaltigsten begeistert: Wie sich ab dem zweiten Absatz im Text: "Als Franz Dellarue vor dem Spiegel versuchte, einen Knick im Hemdkragen zu glätten, fiel ihm zum ersten Mal in all den Jahren auf, dass er sehr dunkle Augen hatte: wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein", eine über das ganze Land, über Bouillon in der belgischen Provinz Luxemburg bis Jerusalem, via Frankreich und Fremdenlegion einmal hinüber nach Afrika, ein andermal im Treck von Kaiser Napoleons "Grande Armée" nach Russland eine metastasierende Fahnderei nach den eignen Vorfahren und Vorfahrinnen entzündet, wie der selber reiselustige, fernsüchtige Jacoby sein alter ego Dellarue in zahlreichen Erzähl- und Erinnerungseskapaden nachschickt auf die zahlreichen eignen Reisen durch Spanien, die Provence, nach Hamburg, nach US-amerikanischer und kanadischer Übersee, was ihn in diesem rhetorischen Extempore zu ungezählten köstlichen chronistischen Schlenkern, ironischen Schnörkeln und sprachlichen Salti inspiriert? 

Oder soll man sich etwa doch eher dafür erwärmen, dass und wie Jacoby auch in dieser Textur wieder Schauplatz und Bevölkerung seiner Erzählkunst mählich erweitert, d.h. unter anderem Orte wie seine dicht am Baumbuschrain klebende Bereldinger Wohnstraße, seine engere Brideler Heimatheide, auf der sich wiederum das unter dem Namen Gipsweiher bekannte Fischzucht-Biotop zwischen Steinsel und Bridel mit den großen Apfelplantagen hoch oben auf dem Steinseler Plateau vermengt, zu seiner tiefen und breiten Menschen- und Naturbühne erhebt und daraus einen bleibenden Luxemburger Literaturtopos macht? 

Was auf ein ersten oberflächlichen Blick kirchtürmlich, hinterwäldlerisch, hoffnungslos provinzlerisch oder schamlos idyllisch oder sogar vielleicht erzkonservativ, engstirnig, reaktionär anmuten mag, es erweist sich in der Darstellung und der Reflexion von Vergangenheit und Gegenwart als durchaus welthaltig, problematisch, aktuell auch; gerade weil Lex Jacoby sehr sorgfältig darauf bedacht ist, sich nicht vom eignen Elan hinwegreißen zu lassen und in den Diskant des Tod- oder Bierernstes zu verfallen. Nicht zuletzt führt Jacoby vor, dass mit  Sprache als Poesie kleine Zu- und große Missstände erbarmungslos durchleuchtet und trotzdem als saftig triefende, treffliche literarische, durchaus nicht als trockne Schonkost verabreicht werden können.

In Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein schlägt Lex Jacoby so viele verblüffende, bezaubernde stilistische Purzelbäume - er geriete in des Zitierteufels Küche, wollte sich der Rezensent ernsthaft auf dieses und kein anderes Paradebeispiel für Jacobys einmalige und einzigartige Diktion kaprizieren, die, zwar deutschester deutscher Tonart, nicht selten ausgerechnet aus der Verdeutschung englischer oder französischer Einsprengsel lustigste, listigste, spirituellste Funken schlägt.

Zweifelsfrei aber hat Lex Jacoby der Luxemburger Literatur schlechthin, der Gegenwartsliteratur ganz gewiss ihre schönste Liebesgeschichte ersponnen, wenn er in Abweichung von der familiengeschichtlichen Stammbaumentfaltung, auf den Spuren Jacques Dellarues beschließt, dieser ferne Vorfahr gehe nach Kaiser Napoleons Debakel beim russischen Borodino nicht verschollen, sondern den Verwundeten nach angemessener Frist und erzählerisch con sordino einer jungen russischen Kriegswitwe in die Arme treibt, wenn er, aus barer Lust und Laune, der Genealogie Phantasietriebe verordnet ...

Der Rezensent kann es sich denn doch in ultimo nicht verwehren, zitat- und kadenzhalber auf die Poesie der Liebe die Poesie der für Jacoby so typischen Ironie und Karikierlust folgen zu lassen: "Die Presse stand wie eine Lupe vor der Sonne, sie vergrößerte die Strahlen, vor allem die gesundheitsschädlichen, sie bohrte Ozonloch um Ozonloch in den Himmel, sie ließ die Gletscher schmelzen und die Meere verdunsten, sie wiegelte die Vulkane auf, sie schürte die Waldbrände, sie ritt vor den Reitern der Apokalypse her. Oder sie ließ reiten.

Die Presse war in diesem Juli ein Risikofaktor, mehr noch, sie war ein Rotkafokisir, wie letzthin der Museumspädagoge sagte, der unten in der Straße wohnt, in dem Haus neben dem Garten mit dem Gift der hohen Rizinusstauden. Wenn vor den Wörtermeeren und in der Rechtschreibung schon alle Dämme brechen, und brechen sie etwa nicht?, dann muss es auch gestattet sein, die anspruchsvolleren Vokabeln von rechts nach links und wie verwirrt zu lesen, meinte der Museumspädagoge und wiederholte: 'Rotkafokisir'. Im Zusammenhang mit den Pressemeldungen der letzten Tage klang Rotkafokisir wie der Nachname eines vorchristlichen Heerführers, oder wie der Kurzname einer soziokulturellen Vereinigung, oder wie ein nordisches Wort für Weltuntergang, wie das Entsetzen beim Herannahen der Drachenschiffe." Chapeau !

Lex Jacoby: Wie nicht ganz schwarzer Kohlenstein; Éditions Saint-Paul; 330 Seiten, 19,34 Euros/780 Franken

Michel Raus
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