Luxemburgensia

Crashkurs

d'Lëtzebuerger Land vom 06.11.2020

Man versteht die Hauptfigur nicht, ganz und gar nicht, und das ist richtig gut. Nachdem der 15-Jährige auf dem Schulhof einen Mitschüler mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen hat, muss er für sechs Wochen in die „Auszeit“, eine Spezialklasse mit nur vier Schülern. Für ihn ist es eine Art Bewährungsprobe, sonst kommt er ins Erziehungsheim nach Dreiborn. Da will er auf keinen Fall hin, denn er hat gehört, dass man da beim Duschen, wie in den Internet-Serien, in den Arsch gefickt wird. Also gibt er sich in der Auszeit eine Woche lang Mühe, bis er die 13-jährige Shirley näher kennenlernt. Shirley sitzt direkt neben ihm und ist „voll die heiße Braut“. Und das ist erst der Anfang einer gefährlichen Abwärtsspirale in Raketengeschwindigkeit...

Tullio Forgiarinis Jugendbuch leben. nehmen. lässt den Teenager selbst erzählen. Im inneren Monolog mit seinem Freund „Johnny Chicago“ (nach dem Film Troublemaker) erzählt der „Held“ der Geschichte die Ereignisse und seine Sicht der Dinge. Dieser Johnny Chicago ist eine coolere und abgebrühtere Version seiner selbst und scheint immer alles unter Kontrolle zu haben. Nur auf diese Stimme, nur auf diesen einen, wahren Freund kann er sich verlassen. Nicht auf Sandra, seine Mutter, für die er sich schämt und prügelt, oder auf seinen „Erzeuger, das Arschloch“, nicht auf die Lehrer in diesem „Knast“, der Auszeit, wo alle Wärter „scheißnett sind und scheißnett bleiben, wenn man sie Alte Hure! nennt.“ Also versucht er, sich allein durchzuschlagen: Freunde finden, respektiert werden und kein Opfer sein. In den Pausen raucht er heimlich mit Shirley. Obwohl er allmählich an ihrem Geisteszustand zweifelt (sie war schon einmal in der „Jugendklapse“ auf Kirchberg), fragt er sich, ob er verliebt ist. Flachlegen will er sie auf jeden Fall. Sie machen blau und ziehen durch die Hauptstadt, betrinken sich und brechen schließlich mit älteren „Freunden von Shirley“ in Oetringen in ein ehemaliges Bordell ein... Am nächsten Tag wird der Erzähler im Krankenhaus wach, die Polizei ist da. Aber auch das ist noch lange nicht das Ende einer Eskapade, die Tschick als gemütlichen Wochenendausflug in den Schatten stellt. In leben. nehmen. führt der Plan, ins Phantasialand zu fahren, unangekündigt und doch unweigerlich zum Höhepunkt der Gewalt.

Die unmittelbare Erzählperspektive, aber auch die allmählich entgleisende Handlung entwickeln Sogwirkung. Inhalt und Sprache greifen ineinander und gestalten komplexe Figuren mit einem eigenen, direkten Tonfall, der sexualisiert und von Gewalt geprägt ist. Allmählich erkennt man die Logik des Helden, in der es so viele Missverständnisse gibt: über Liebe, Familie, Cool-Sein, Vertrauen und darüber, was die richtige Entscheidung ist. Dabei versucht das Buch nicht, eine Moral zu vermitteln. Es gibt keinen Blick von außen, keine Bewertung; kein Versuch, jemandem irgendeine Schuld zuzuweisen. Wie auch, wenn jede Entscheidung alles immer nur noch schlimmer macht? Wenn ein Einbruch (oder Drogen) als Weg zum eigentlichen Ziel einfach hingenommen werden? Und das ist, was so schwer zu verstehen ist, aber gestochen scharf dargestellt wird. Sie stehen mit dem Rücken zur Wand: Sie können immer nur weiter machen. Es gibt kein Zurück.

Der Arena-Verlag stellt Materialien zur Verfügung, die die Lektüre (etwa in der Schule) begleiten können. Es ist ein aktuelles Buch in moderner Sprache. Mitreißend, eben weil es keine Scheu vor Brutalität, Pornos oder der Eskalation hat, sie nicht erklären will und gleichzeitig die Balance hält, die Figuren dahinter interessant und komplex darzustellen. Figuren, über die man noch lange nachdenkt oder reden kann. Man versteht sie nicht, und man versteht es doch.

Tullio Forgiarini, geboren 1966 in Luxemburg, hat Geschichte studiert und unterrichtet am Lycée du Nord in Wiltz Geschichte, Latein und Geografie. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten, Drehbücher und Theaterstücke auf Deutsch, Luxemburgisch und Französisch. 2011 erschien der Roman Amok auf Luxemburgisch und war 2013 unter den Preisträgern des European Union Prize for Literature, dessen gelungene Übersetzung ins Deutsche von Luc Spada jetzt im Arena-Verlag erschienen ist. .

Tullio Forgiarini: Leben. Nehmen. Aus dem Luxemburgischen von Luc Spada. Arena Verlag 152 Seiten 8,00 €.

Claire Schmartz
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