Luxemburgensia

Renert, eine verspätete Vormärz-Satire

Wilhelm von Kaulbach lässt den Fuchs in einem Buch des Anarchisten Proudhon lesen (Ausschnitt)
Foto: collection privée
d'Lëtzebuerger Land vom 21.08.2020

Renert ist die bedeutendste politische Satire der Luxemburger Literatur. In 6 452 Versen bietet das Gedicht ein einzigartiges Panorama der bürgerlichen Gesellschaft um 1870. Deshalb wird das 1872 zuerst anonym veröffentlichte Buch bis heute als Kinderfabel, Heimatdichtung oder Nationalepos abgewertet. Um diesem Missverständnis vorzugreifen, hatte sein Autor, der Waldbilliger Kantonal-Piqueur Michel Rodange (1827-1876), den Untertitel „de Fuuss am Frack an a Maansgréisst“ hinzugefügt1.

Als Vorlage diente Rodange der 1794 erschienene Reineke Fuchs von Johann Wolfgang von Goethe. Aber anders als die Übersetzungen ins Ostfriesische, Niederösterreichische oder Steirische dichtete Rodange Goethes unmittelbar nach dem Sturz der französischen Monarchie verfassten „Hof- und Regentenspiegel“ nicht bloß auf Luxemburgisch nach oder verfasste als Ex-Lehrer eine weitere der ungezählten Kinderbuchfassungen. Er übertrug die Handlung in seine gesellschaftliche und politische Gegenwart der neuen Eisenbahnen und Schmelzen, des Zensuswahlrechts und des Entstehens neuer Nationalstaaten. Schließlich zählte Rodange zu den ersten Autoren der nach der Aufhebung der Zensur 1868 gegründeten satirischen Zeitung D’Wäschfra. Viele aktuelle Themen der Wäschfra finden sich im Renert wieder.

Damit fügt sich der Renert in eine Tradition von Schriftstellern und Zeichnern ein, die das durch Goethe wieder popularisierte Reineke-Fuchs-Motiv aufgriffen, um verfremdet die Verhältnisse ihrer Zeit zu kritisieren. Den Anfang machte 1797 die anonym und mit einem fingierten Druckort möglicherweise in Hamburg-Altona erschienene Prosafabel Reineke Fuchs am Ende des philosophischen Jahrhunderts2. Sie folgt der überlieferten Fabelhandlung, um die Despotie und Korruption am Hof des dänischen Königs Christian VII. in Kopenhagen bloßzustellen, das „Dorophagon“ genannt wird, Stadt der Geschenkefresser.

In Dorophagon tritt der Adel auf: „Schon rollten die Carossen, und die Herren hüpften wohlparfümiert, im Magen leer und im Kopfe, die Marmorstiegen des Schlosses hinan“ (S. 7). Der Klerus kommt nicht besser weg: „Ueberhaupt hat dein Gehirn eine viel zu weit zurückgedrückte Lage, als daß du hoffen könntest, irgend eine Wissenschaft oder Kunst mit einiger Vollkommenheit zu fassen: Entschließ dich also, und werde ein Geistlicher“ (S. 20). Doch acht Jahre nach der Französischen Revolution bezweifelt König Nobel, der Löwe, „ob es die von ihm beherrschten Millionen auf immer so gleichgültig ansehen würden, daß er nebst werther Familie tagtäglich mehrere seiner Getreuen verschlang, die von wohlbesoldeten Beamten mußten geliefert werden“ (S. 2).

Vier Jahre vor der Märzrevolution von 1848 erschien, ebenfalls anonym, in Stuttgart Der neue Reineke Fuchs in acht philosophischen Fabeln3 vom Autor der 1844 veröffentlichten Satire Türkisch-Persischer Rechtsstreit zwischen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus. Diesmal geht es um die Geschichte des deutschen Idealismus: Nach dem Tod des alten Löwen Immanuel Kant und des jungen Adlers Johann Gottlieb Fichte verkleidet sich Reineke Fuchs alias Schelling mit der Mähne des Einen und den Flügeln des Anderen. So philosophiert er den Tieren auf einem Eichenstamm vom Absoluten, das sich in seiner Höhle hinter einem Vorhang befinde. Bis der große Bär, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auftritt, die Höhle verwüstet und den Vorhang zerreißt: „Hinter dem Vorhang aber zeigte sich nichts, als eine kahle, leere Felsenwand“ (S. 17). Nun ist der Bär der Philosophenkönig, doch seine Bärlein, die Alt- und Linkshegelianer, streiten, so dass nach dem Tod des Bären der Fuchs wieder als Philosophenkönig auftreten kann. Bis der alte Adler, der heute weitgehend vergessene rationalistische Theologe Paulus, angeflogen kommt, er „hackt ihm, in Gegenwart des ganzen erstaunten Thiervolkes die ganze Löwenhaut sammt den Adlerflügen herunter“ (S. 25).

Der Berliner Journalist und Satiriker Adolf Glaßbrenner (1810-1876) veröffentlichte zwei Jahre vor der Revolution von 1848 einen langen, gereimten Neue[n] Reineke Fuchs4, der rasch nach seinem Erscheinen verboten wurde. Reineke Fuchs ist diesmal der General der „Fuchsiten“, der Jesuiten, die unter der Schirmherrschaft des großen Ochsen Babba in Siebenspitzen, des Papstes in Rom, gerufen werden, um „Den neuen Herrscher zu bekehren, / Daß er sein Herz nicht mehr erwärme / Für Freiheit, und für Volksglück schwärme“ (S. 244).

Dabei bedienen sie sich aller Mittel einschließlich, der Behauptung, dass Gott „durch Reliquien Wunder thue“ wie die „wunderthätige, heil’ge Hose“ (S. 305), der Heilige Rock in Trier. Das lange Gedicht verspottet König Braun, Friedrich Wilhelm III., die enttäuschende Hoffnung der Liberalen in Preußen. In langen Exkursen stellt es verschiedene Herrschaftsformen vor wie den aufgeklärten Despotismus von Fürst Johanniswürmchen und die Republik im fernen Utopen.

Ebenfalls 1846 erschien eine Prachtausgabe von Goethes Reineke Fuchs5 mit Stahlstichen und Holzvignetten nach Zeichnungen des Historienmalers und Buchillustrators Wilhelm von Kaulbach (1804-1874). Kaulbach radikalisierte Goethes Textvorlage, illustrierte detailreich die Orgien am Königshof (nach S. 124), zeigte ganzseitig, wie der Kater den Pater kastriert (nach S.42), und ließ Reineke ein Buch mit dem Zitat „La propriété c’est le vol“ lesen (nach S. 36), aus dem 1840 erschienenen Qu’est-ce que la propriété ? des Anarchisten Pierre Joseph Proudhon (1809-1865).

Im Revolutionsjahr 1848 veröffentlichte ein Franz Volkmar ein konservatives Gegenstück, Der Kreuzfuchs6. Reineke Fuchs ist Kanzler, sein Vetter Kreuzfuchs ein Rosenkreuzer. Nach dem Tod des Königs komplottieren sie, damit „das tyrannische Regiment des grimmigen Löwen abgeschafft und statt seiner ein sanftmütiges Thier erwählt werde möchte“ (S. 16). So kommt nach einem Wettstreit der Esel, der bürgerliche Simpel, auf den Thron. Doch der Esel verliert einen Krieg, gerät in Gefangenschaft und am Ende des republikanischen Experiments wünscht sich das Volk den Thronprinzen zurück und die Wiederherstellung der Dynastie.

Auch nach der Revolution von 1848 wurde der Reineke-Stoff für unterschiedliche, wenn auch kaum mehr fortschrittliche und demokratische Anliegen weiterverwendet. Der homöopathische Arzt Wilhelm Heinrich Schüssler (1821-1898) erzählte im gereimten Reineke Fuchs als Anti-Homöopath7, wie die „Allopathen“ Isegrim, Tiger und Panther Reineke viel Geld anbieten, damit er Propaganda gegen ihre aufstrebende homöopathische Konkurrenz macht. Bis „der Fuchs, der unversehrt / Vom Homöopathen wieder kam, / Der ihm den bösen Zahnschmerz nahm“ (S. 34), so zur „neuen Lehre“ bekehrt wird.

Ein Jahr vor dem Renert verkaufte der Bibliothekar Joseph Zedner anonym eine Broschüre Ein Fragment aus dem letzten Gesange von Reineke Fuchs8 zugunsten der Verwundeten des deutsch-französischen Kriegs. In dem auf den 17. März 1871, ein Tag vor dem Beginn der Pariser Commune, datierten Gedicht, ist Reineke Fuchs der gefangene Napoléon III., der König Nobel, dem Deutschen Kaiser Wilhelm I., vorgeführt wird. „Doch diesmal haranguirt er nicht, er weint / Und senkt den Wedel“ (S. 8).

Zedners Spottgedicht auf den geschlagenen Erbfeind war nicht die letzte Bearbeitung des Reineke-Stoffs. Aber Reineke für die eigenen politischen Anliegen aufzugreifen, war vor allem eine Tradition im deutschen Sprachraum, wegen der Popularität von Goethes Reineke Fuchs, aber auch weil in Ländern wie Frankreich, wo der Roman du Renard seit Jahrhunderten bekannt war, keine Notwendigkeit mehr bestand, politische Schriften als Tierfabel zu tarnen.

In Flandern hatte Jan Frans Willems (1793-1846), einer der Begründer der Vlaamse Beweging, schon 1834 mit Reinaert de vos, naer de oudste beryming9 die Fuchsfabel für seine politischen Zwecke benutzt. Sie war aber nicht Grundlage eines neuen Werks, sondern sollte als Sprachdenkmal der Wiederbelebung der flämischen Literatursprache dienen „in een’ tyd waerop ons land van zooveel franschen uitschot wordt overstroomd“ (in einer Zeit, da unser Land von so viel französischem Abschaum überflutet wird; S. XII).

Michel Rodange dürfte diese Bearbeitungen des Reineke-Stoffs im Vormärz und danach kaum gekannt haben. Doch fügt sich sein Renert mit Angriffen auf die politische dominierenden Notabeln, den obskurantistischen Klerus, die annexionistischen Parteien, den pädophilen Pfarrer Frieden und den frommen Betrüger Langrand in ihre Tradition ein10.

1 Renert oder de Fuuß am Frack an a Ma’nsgrëßt. Op en Neris fotografëert vun engem Letzebreger. Letzebuurg. Drock vum J. Joris. 1872, 254 S.

2 Reineke Fuchs am Ende des philosophischen Jahrhunderts, Itzehoe und Crempe, 1797, 236 S.

3 Der neue Reineke Fuchs in acht philosophischen Fabeln. Ein Beitrag zur Culturgeschichte des Thierreichs mit angehängten Verwahrungen gegen etwaige Mißverständnisse vom Uebersetzer des Türkisch-Persischen-Rechtsstreites. Stuttgart,
L.F. Rieger’sche Buchhandlung (Adolph Becker), 1844, 48 S.

4 Neuer Reineke Fuchs von Adolf Glaßbrenner, Leipzig, Verlag von Carl. P. Lorch, 1846, 392 S.

5 Reineke Fuchs von Wolfgang von Goethe mit Zeichnungen von Wilhelm von Kaulbach gestochen von R. Rahn und A. Schleich. München. Verlag der Literarisch-artistischen Anstalt, 1846, 257 S.

6 Der Kreuzfuchs. Eine Fortsetzung des Reineke Fuchs. Herausgegeben von Franz Volkmar. Mit einem Titelkupfer. Stuttgart. Verlag von Ebner und Seubert. 1848, 209 S.

7 Reineke Fuchs als Anti-Homöopath von Dr. Schüssler, homöopathischer Arzte in Oldenburg. Sondershausen, 1860. Druck und Verlag von Fr. Aug. Eupel, 72 S.

8 [Joseph Zedner], Ein Fragment aus dem letzten Gesange von Reineke Fuchs, Berlin, A. Asher & Co0. 11, Unter den Linden, 1871, 8 S.

9 Reinaert de vos, naer de oudste beryming, door J. F. Willems. Eecloo, Drukkery van A.B. van Han en zoon. 1834, 140 S.

10 Im Oktober veröffentlicht der Autor eine kommentierte Neuausgabe des Renert im Verlag Guy Binsfeld.

Romain Hilgert
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