Luxemburgensia

„Es scheint mir eine Pionierleistung zu sein“

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2020

Claude D. Conter, Direktor der National- bibliothek und Ko-Autor des Bandes Luxemburg und der Zweite Weltkrieg, zwischen Machtergreifung und Epuration, über das diesem zu Grunde liegende vierjährige Forschungsprojekt und Grauzonen.

d’Land: Wie und wann ist die Idee zu dem Forschungsprojekt entstanden und wie lange hat es dann gedauert bis zur Publikation dieses 600 Seiten schweren Ausstellungskatalogs?

Claude D. Conter: Die Idee ist vor etwa vier Jahren in der Gruppe geboren, die sich mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hat. Wir wollten uns beim neuen Projekt zunächst das literarische Feld anschauen, also den Literaturbetrieb. Wie funktionierte er zwischen 1940 und 1945? Uns ist sehr schnell bewusst geworden, dass wir die 1930er-Jahre berücksichtigen müssen, weil mit der Machtergreifung Hitlers die Rezeption eines nationalsozialistischen Diskurses stattfindet, der in Luxemburg vielfach und kontrovers diskutiert wurde. Es stellte sich natürlich auch die Frage, inwiefern 1940 eine Zäsur ist. Wir wollten uns mit allen Bereichen des Literaturbetriebs beschäftigen: Was wurde geschrieben? Was wurde gelesen? Wie waren Bibliotheken, Buchhandlungen organisiert? Welche Literatur wurde in den gleichgeschalteten Zeitungen gelesen? Wie wurde der Theaterbetrieb neu aufgestellt? Wie war die Einstellung der Luxemburger Schriftsteller? Es ist ja doch erstaunlich, dass niemand geschrieben hat – bis auf drei Publikationen, die 1940 erschienen sind. Genauso erstaunlich ist: Es gab anfangs ein großes Interesse von Seiten der NS-Kulturpolitik an Luxemburger Autoren; so sind etwa Listen mit Einschätzungen durch die NS-Funktionäre überliefert. Aber im Grunde hat man doch auf niemanden zurückgegriffen, es sei denn, dass man Norbert Jacques hinzufügt, der nach seiner prodeutschen Haltung im Ersten Weltkrieg die deutsche Staatsbürgerschaft annahm und während des Zweiten Weltkrieges als vermeintlich verlorener Sohn „heim ins Reich“ kehrte. Unser Anspruch war es demnach, zwischen der Machtergreifung und der Epuration Lesen, Schreiben und die Reflexion über die Ereignisse in schriftlicher Form zu beschreiben und zu analysieren. Daher ging es auch um die frühen Berichte der drei Opfergruppen: die KZ’ler, die Zwangsrekrutierten und die Umgesiedelten.

Inwiefern fällt das Theater in dem Zeitraum aus dem Rahmen? Mit Schauspielern wie René Deltgen hatte man ja im Film- und Theaterbereich durchaus streitbare Künstler, die sich vom NS-System haben vor den Karren spannen lassen ...

René Deltgen wurde natürlich gefeiert als ein besonders erfolgreicher Autor. Er trat mit seiner Gefährtin im Rahmen der Rezitationsabende der Gedelit (Gesellschaft für Deutsche Literatur und Kunst) auf. Der Theaterbereich ist insgesamt spannend, weil wir es dort mit einer Reproduktion eines Gustav-Gründgens-Konfliktes zu tun haben. Also der Frage, inwiefern man sich als Schauspieler der Tragweite bewusst ist, sich ideologisch einspannen zu lassen, wenn die Lust am Beruf einen womöglich für die kulturpolitische Wirkung blind macht. All die Autoren, vor allem Schauspieler, die sich bereits in den 1930er-Jahren danach sehnten, endlich eine gemeinsame
Bühne zu haben, hatten hohe Erwartungen, weil die NS-Kulturpolitik dem Theater einen wichtigen Stellenwert im Literaturbetrieb einräumte. Da wurden einige schwach, insbesondere da sie sogar auf Luxemburgisch Theater spielen konnten und die damals gegründete Luxemburger Volksbühne rund um Emil Boeres zu einem Exportprodukt mit Auftritt in Paris wurde. Marc Limpach hat zum ersten Mal auch die Kulturpolitik eingehend analysiert. Über die Biografien der zentralen NS-Intellektuellen Perizonius und Hengst wusste man bislang kaum etwas. Da ist ganz neues Material ausgewertet worden.

Was waren die größten Hürden bei dem Forschungsvorhaben? Gab es auch Persönlichkeiten, an die Sie sich möglicherweise, weil diese direkt involviert waren oder noch leben, nicht herangewagt haben?

Eine der Herausforderungen bei diesem Forschungsvorhaben war sicherlich die Fülle an Quellenmaterial, und damit meine ich insbesondere nichtveröffentlichtes Material. Unser erster Anspruch, an dem wir gemessen werden müssen, bestand darin, zum ersten Mal überhaupt einen gesamten Bereich oder ein Teilsystem weitgehend zu beschreiben und wertfrei zu analysieren. Wir wollten eine literatursoziologische und historische Analyse des Literatur- und Theaterbetriebes. Es gibt, neben Catherine Lorents Studie über den Kunstbetrieb und Paul Leschs Studie über den Film, derzeit kaum einen anderen Bereich, der versuchsweise als Ganzes aufgearbeitet werden sollte. Das scheint mir persönlich durchaus eine Pionierleistung zu sein. Ob wir uns an alle rangewagt haben? Ich denke schon. Gerade unter den Historikern leben wir in einer Phase, in der nach dem Mythos des Widerstandes manchmal gleichermaßen der Mythos der Kollaboration beschworen wird. Die Literaten haben aber nicht geschrieben, bzw. nicht veröffentlicht. So einfach ist es. Trotzdem kann man über unterschiedliche Haltungen sprechen. Diese haben wir uns in den einzelnen Fällen von Jahr zu Jahr angeschaut. Es ist ein Unterschied, wie jemand sich Ende 1940 oder 1943 äußert. Und es gab sehr mutige Äußerungen oder Ausdrucksformen mancher Schriftsteller. Ein von der Kulturpolitik begehrter Autor wie Nikolaus Hein etwa hat sich doch sehr rasch aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Ich glaube, dass unsere Ergebnisse durchaus zeigen, dass die im Katalog dominierende Farbe „grau“ zurecht gewählt wurde. Ein Schwarz-weißes Bild lässt sich zumindest für den Bereich der Literatur nicht zeichnen. Ich denke, dass wir uns an alles herangewagt haben, aber wir haben uns bemüht, nicht zu urteilen und Haltungen und Taten nicht zu bewerten – weder in die eine noch in die andere Richtung. Das mag nicht jedermanns Sache sein, aber ich persönlich verbuche es als einen Pluspunkt unserer Forschung. Wir wollen die Leserinnen und Leser auf den Wissensstand setzen, selbst zu urteilen.

Was leistet der Band an neuen Erkenntnissen? Ändert sich möglicherweise die Rezeption und Gesamtperspektive auf den Zeitraum?

Ich glaube, dieses Buch wird die Diskussion über den Zweiten Weltkrieg weiter ausdifferenzieren. Das heißt nicht, dass unsere Ergebnisse verallgemeinerbar sind, aber die Beschreibung des literarisch-intellektuellen Lebens wirft einen differenzierten Blick auf einen kleinen Teil des Lebens in Luxemburg. Ein Begriff, wie der der Kollaboration, erdrückt geradezu die tatsächlichen Spannungsverhältnisse, denen Autoren wie Kathrin C. Mart, Robert Thill, Alex Weicker, Pol Michels u.a. ausgesetzt waren. Vieles spielt mit rein: der Beruf, die private Situation usw. Und die Details sind am Wichtigsten: Unterzeichnet Robert Thill einen Artikel namentlich oder nicht? Weshalb? Wo herrschte Zwang? Welche Art des Zwangs. Die Antworten geben ein präziseres Bild dieser Zeit. Josiane Weber hat über Damian Kratzenberg, der vor 1940 Leiter der Gedelit war, neue Aspekte erarbeitet. Für mich persönlich war es jedoch eine Sensation, dass die Gemeinde in Fels uns die Bestände der damaligen Volksbücherei, die noch überliefert waren, zur Auswertung überließ. Zum ersten Mal überhaupt konnten wir nachverfolgen, wie die Volksbüchereien als zentrales Erziehungsinstrument der NS-Ideologen aufgebaut waren.

Sie schildern in einem Beitrag die NS-politische Vereinnahmung der Gedelit ... Klar wird, es gab immer wieder zaghafte Versuche von Luxemburgern sich dieser zu entziehen. Aber gab es innerhalb der Literaturzirkel niemanden, der sich offensiv gegen die deutschen Besatzer gestellt hat? Gab es innerhalb der Literaturkreise keine „Kollaborateure“?

Schauspieler, Komponist und Autor Emil Boeres könnte man als einen nennen, der die Distanz nicht gewahrt hat; er hat nie verstanden, welche Probleme sich durch seine Auftritte ergeben. Andere Teilnehmer der Luxemburger Volksbühne haben sich allerspätestens nach dem Paris-Auftritt zurückgezogen. Aber uns ging es nicht darum, moralische Wertungen abzugeben.

Würden Sie denn auch von „Helden“ sprechen? Entschuldigung, dass ich zur Polarisierung dränge, aber gab es innerhalb der Literaturszene niemanden, der sich ganz offensiv gegen die deutschen Besatzer aufgelehnt hat?

Das sind Fragestellungen, die uns in der Tat überhaupt nicht interessiert haben, weil sie meines Erachtens auch ein Geschichtsbild prägen, das immer noch in der Dichotomie von Widerstand und Kollaboration verharrt. Das sind Kategorien, mit denen konnten wir gar nichts anfangen.

Ich habe nirgendwo Aussagen zu jüdischen Schriftstellern und ihren Werken gefunden. Gab es diese?

Wir haben uns bemüht, Fragestellungen aus dem Befund der Dokumente zu entwickeln. Die „Judenfrage“ und insbesondere das Los der jüdischen Emigranten spielt in den politischen Diskursen der 1930er-Jahre eine Rolle, auch in den Schriften der Intellektuellen, seien sie nun linksliberal oder konservativ: Diese Schicksale sind in der Ausstellung „Exil in Luxemburg“ von Germaine Goetzinger, Gast Mannes und Pierre Marson geklärt worden. Wir verweisen darauf, arbeiten manche Aspekte hervor und zitieren zum Beispiel erstmals aus der fragmentarischen Autobiografie von Karl Schnog, von dem manche sagen, dass er ein jüdischer Autor sei, obgleich er sich selbst zunächst als ein antifaschistischer Autor verstanden hat. Es bleibt aber zunächst dabei: Wer sollen die jüdischen Autoren in Luxemburg gewesen sein? Sie sind jedenfalls kaum ein Thema im Literaturbetrieb. In Kritiken gibt es antisemitische Äußerungen gegen Autoren wie Heine oder Exilautoren aus Deutschland und Österreich, in manchen, aber tatsächlich wenigen Feuilleton-Romanen, Krimis oder historischen Romanen, gibt es antisemitische Ausfälle. Am auffälligsten ist das in den NS-Hetzschriften, die man in Volksbüchereien ausleihen konnte, wobei die Statistiken in den Jahren 1941 und 1942 zeigen, dass solche Publikationen kaum gelesen wurden.

Der Blick auf den Zeitraum (1945-1955) erscheint doch sehr stark von Männern dominiert. Abgesehen davon, dass das Verschleiern weiblicher Kulturleistungen ja in der Geschichtsschreibung seit Jahrhunderten systematisch praktiziert wird, hätte es sich nicht gelohnt, den Blick auf das Wirken starker weiblicher Persönlichkeiten wie etwa Carmen Ennesch zu lenken? Und: wieso waren nicht noch mehr Frauen wie etwa Germaine Goetzinger oder Renée Wagener an der Mitwirkung des Bandes beteiligt? Diese hätten ja durchaus feministische Akzente setzen können ...

Ich glaube, es ist wie mit der Frage nach jüdischen Autoren – diese Fragestellungen kommen alle von außen. Wo sind die Frauen? Dann frag ich gerne zurück: Wo sind die Frauen, die zwischen 1933 und 1945 geschrieben haben? Sie sind vergleichsweise wenige. Bei jenen, die bis 1940 geschrieben haben, wären zu nennen: Eleonore Flammang, Ry Boisseaux, Anna Speyer, Alice Geschwind, Carmen Ennesch, Hélène Fournelle und Germaine Devas. Die meisten haben vor 1940 Kinderliteratur geschrieben. Es geht aber weniger darum, Namen zu nennen, sondern man muss auch nach dem Stellenwert damals und der Rezeption fragen. Mit der Journalistin Kathrin C. Martin, die tatsächlich zu Unrecht lange vergessen war, hat sich Josiane Weber näher beschäftigt. Carmen Ennesch ist in der Tat eine sehr richtige Bemerkung. Man muss allerdings wissen, dass Ennesch 1939 nach Paris zog, das heißt, dass sie nicht mehr präsent in Luxemburg war. Das gilt ebenso für Aline Mayrisch, aber auch für Autoren wie Willy Gilson oder Emil Marx. Wir sind uns tatsächlich bewusst, dass wir nicht auf die Luxemburger Autoren im Exil eingegangen sind. Damit hat sich bisher noch niemand beschäftigt! Es handelt sich um ein Forschungsdesiderat, wie wir eigens in einer Fußnote angemerkt haben.

Würden Sie sagen, dass mit dem wissenschaftlichen Band eine Forschungslücke gefüllt ist? Was sind Fragestellungen, die sich aus der Erforschung des Zeitraums ergeben?

Ich glaube schon, dass wir ein angemessenes, umfassendes Bild des Literaturbetriebs gegeben haben von 1940 bis 1945, mit einigen Lücken, das haben wir meistens thematisiert. Ich will es vielleicht wagen: Ja, wir haben eine Forschungslücke geschlossen, aber eben nicht vollständig. Neue Dokumente werden auftauchen, womöglich sogar neue Namen von Autoren, die nie veröffentlicht, aber geschrieben haben. Die Luxemburger Autoren im Exil wurden bereits erwähnt. Andere Themen, die wir vernachlässigt haben: die Literaturkritik zwischen 1940 und 1945. Aber ich denke, dass unsere Arbeit vor allem andere Wissenschaftler anregen wird, Vergleichbares für andere Wissensbereiche zu leisten: die Justiz – daran arbeitet gerade eine Forschergruppe – die Presse, das Bildungssystem und die Lehrenden. Andere müssten sich heranwagen an die Analyse der Geisteswissenschaftler, aber das ist nicht Aufgabe des Literaturarchivs.

Claude D. Conter, Daniela Lieb, Marc Limpach, Sandra Schmit, Jeff Schmitz & Josiane Weber: Luxemburg und der Zweite Weltkrieg – Literarisch-intellektuelles Leben zwischen Machtergreifung und Epuration. CNL 2020. 596 Seiten, 45 Euro

Anina Valle Thiele
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