Die kleine Zeitzeugin

Platzanweiserin im Cité

d'Lëtzebuerger Land vom 21.02.2020

Es war der Topjob meines Lebens, meines bisherigen zumindest, wer weiß, was sich noch ergibt. Kino, den halben Tag Kino, bis in die Nacht Kino. Und das mitten in der Stadt, neben der Place d’Armes, mitten in der Mitte, mitten im Leben.

Schlafen bis Mittag und dann ins Kino! Gratis auch noch. Mit einem Körbchen herumspazieren, wie weiland Rotkäppchen, nur ohne Wald, ohne Wolf, ohne Wein. Mit knusprig gerüstetem Eis am Stiel. Joffer, wann ech gelifft! Es gab noch Jofferen, die bekamen sogar Trinkgeld, hin und wieder schnappte sich Jöfferchen ein Eis aus dem Körbchen, warum denn auch nicht? Die Zeiten waren nicht pingelig, der Chef auch nicht, er war sehr nett, und nach dem Vorstellungsgespräch sah ich ihn nie, was noch netter war.

Er war nur der Besitzer, und das schien ihm zu reichen, alles andere überließ er uns. Einem gemütlichen Trüppchen, jede_r machte sein oder ihr Ding, kein Stress. Meist machte die nette Josée die Kasse. Leider auch einmal ich, an einem Abend, an dem die halbe Stadt Schlange stand, nachher gab es einen Krater in der Kasse, und ich musste tief in meine leere Börse greifen, um ihn zu stopfen. Ich musste nie wieder Kasse machen.

Es gab einen professionellen Billeteur, auch so ein Traumjob. Wenn viel los war, half ich beim Zupfen. An diesen Abenden genierte sich meine Mutter am meisten, ihre Freundinnen sprachen sie in der Groussgaass auf ihre Tochter an, die plötzlich im Cité mit Eis lustwandelte.

Nach dem Knipsen waltete ich meines Platzanweiserinnenamtes. Die meisten Zuschauer_innen waren Gott sei Dank in der Lage, sich ihre Plätze selber anzuweisen, irgendwo kamen sie schon unter. Sie waren überhaupt pflegeleicht, hinterließen kaum Müll, höchstens Eis-am-Stiel-Stiele, nicht mal Kondome. Wenn es am allerspannendsten wurde, öffnete ich spielverderberisch die Tür, das Licht floß ins Dunkel, in dem Göttinnen und Monster das Publikum in ihrem Bann hielten. Benommen, mitgenommen tappte es dann in die Unwirklichkeit, die Unwirtlichkeit.

Dazwischen las ich in einem gemütlichen Dunkelkämmerchen, ich las und las. Die Bilder der Autobiografie von Paul Klee schaute ich mir mit Gina aus Blackpool an. Mit ihr teilte ich das Refugium, die anderen hingen lieber in der Kinohalle rum. Ich weihte sie ein, dass ich nur jobbte, wegen des Flugtickets für die Weltreise. Dass dies kein Lebensentwurf war, wie es damals noch nicht hieß, damals hieß das Arbeit, und das hieß lebenslänglich. Sie war auch nicht lebenslänglich, sie hatte vieles vor und auch schon hinter sich. Mit ihrem langen schwarzen Pferdeschwanz und den Stirnponys war sie einfach cool, einfach englisch Anfang der Seventies. Beide wurden wir von unseren Freunden abgeholt, die im erleuchteten Schnee in der Nacht auf uns warteten, zumindest in meiner Erinnerung. Ihr gestand ich das mit der Weltreise, dass ich nur wegen des Flugtickets nach Israel jobbte.

Die Menschenkenntnis des Chefs hatte ihn nicht getäuscht. Als ich oben im Victory, das er auch besaß – im Kassenhäuschen thronte noch eine Kassiererin, echt wie die Wahrsagerinnenpuppen in den Glaskästen auf der Fouer – vorstellig wurde, meinte er, ich würde bestimmt nicht bleiben. Wegen des Première-Examens, Latein auch noch, ich sei überqualifiziert. Wegen der Weltreisemotivation schaffte ich es, ihn trotzdem von meiner Motivation zu überzeugen, ich habe noch heute ein schlechtes Gewissen. Er saß in einem dunklen Zimmer in einem Cowboykino an einem alten Schreibtisch, er war überhaupt kein Kapitalist. Er hieß Isidore.

Filme habe ich mir in der Kinozeit kaum angeschaut. Auf französische Filme dieser Zeit war ich allergisch, immer Hektik mit quietschenden Reifen und anstrengend lustigen Ganoven. Nur bei einem Film, er lief über Wochen, verpasste ich keine Vorstellung. Ich kannte jeden Dialogfetzen des Letzten Tangos von Bertolucci auswendig. Noch heute erinnere ich mich an Brandos Augenblick. Daran, wie Brandos Augen brachen, wie er den Kaugummi an die Balkonbrüstung klebte.

Ich war gar nicht traumatisiert, es war allerdings auch die luxemburgische Version, die für Jofferen.

Nach zwei Monaten war die schöne Zeit vorbei und ich musste auf die Weltreise.

Michèle Thoma
© 2024 d’Lëtzebuerger Land