Wenn in der Hauptstadt in zwei Wochen die Straßenbahn bis zur Stäreplaz rollt, soll das Mitfahren bis zum Ende der Schulferien kostenlos sein. So war es schon, als im Dezember auf dem Kirchberg der erste Abschnitt in Betrieb ging. Das Gratisangebot bis Ende Januar sollte die Leute für die Tram „sensibilisieren“, hatte Transportminister François Bausch (Grüne) erklärt.
Warum aber darf das Gratis-Glück nur zwei Monate dauern, und warum nicht überall im öffentlichen Transport? Man stiege ohne Sorge in Bus, Tram oder Zug und führe so lange und so oft man will. Im Auto-Land Luxemburg könnte eine „Sensibilisierung“ durch Freifahrt für alle dem öffentlichen Transport womöglich neue Nutzer zuführen und die Staus im Berufsverkehr mindern helfen. Beispiele aus dem Ausland haben immerhin gezeigt, wie das gehen kann: Nachdem im belgischen Hasselt 1997 der Gratistransport eingeführt worden war, schnellte in der 68 000-Einwohnerstadt die Busbenutzung schon nach den ersten zwölf Monaten von jährlich 340 000 Passagieren auf 2,7 Millionen nach oben. Eine Studie des flämischen Verkehrsministeriums ergab Ende 1997, dass jeder sechste Buspassagier seine Fahrt früher im Auto getätigt hatte.
Hinzu kommt: Hierzulande wird der öffentliche Transport stark subventioniert. Im Staatshaushalt ist dafür dieses Jahr fast eine halbe Milliarde Euro eingeplant. Vier Fünftel davon gehen allein an die CFL (218,7 Millionen für Zug und Bus) und die Busfirmen im RGTR-Überlanddienst (169,4 Millionen). Aber auch das Süd-Transportsyndikat Tice (40 Millionen) und der Hauptstadt-Busbetrieb AVL (15,7 Millionen) erhalten Unterstützung, und für Tram-Betreiber Luxtram sind sechs Millionen vorgesehen. In die Rechnung gehen außerdem 48 Millionen Euro für den Transport von Behinderten und 5,6 Millionen für den von Sekundarschülern ein.
Weil das viele Geld vom Staat die Ticketpreise niedrig hält, sind die Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrkarten und Abonnements mit jährlich an die 30 Millionen Euro vergleichsweise klein. Da liegt der Gedanke nicht fern, man könne auf sie verzichten. Doch bis Samstag vergangener Woche fand nur déi Lénk das in ihrem Wahlprogramm „vernünftig“ und dass der Gratistransport „kleinere Einkommen entlasten, sowie für eine bessere Auslastung des Angebots außerhalb der Stoßzeiten sorgen“ würde, „vor allem im Hinblick auf eine gelegentliche Benutzung des öffentlichen Transports“.
Dann aber traf sich am Sonntag die DP zu ihrem Wahlkongress, und Leser des Luxemburger Wort konnten sogar schon am Tag zuvor einer ganzseitigen Anzeige der Liberalen entnehmen, dass das Gratis-Glück ein Stück politikfähiger geworden ist: „Die DP hat den Gratistransport für Schüler eingeführt. Wir werden einen Schritt weiter gehen und den kostenlosen öffentlichen Transport für alle einführen.“ Zuletzt hatte das vor acht Jahren CSV-Premier Jean-Claude Juncker in der Tripartite in Aussicht gestellt. Als Gegenleistung wollte er aber den Index gedeckelt und die Preisentwicklung der Petrolprodukte aus dem Index-Warenkorb entfernt wissen. Die steuerlich absetzbare „Kilometerpauschale“ abschaffen wollte er obendrein. Die DP will all das nicht. Zumindest nicht laut den „Schwerpunkten“ ihres Wahlprogramms, die sie bisher publik gemacht hat.
Wer wollte sich über das Gratis-Versprechen nicht freuen? Der grüne Transportminister zum Beispiel. Er nannte es am Montag im RTL Radio „Populismus“. Ein schrecklicher Vorwurf für DP-Vizepräsident Max Hahn, der für die liberale Fraktion im parlamentarischen Nachhaltigkeitsausschuss sitzt: „Wenn diese Idee schon nicht von den Grünen kommt, könnten sie sich wenigstens mit ihr auseinandersetzen, statt sie runterzumachen“, sagt Hahn dem Land. „Der Personenkreis, der schon jetzt gratis fährt, wurde immer weiter ausgeweitet, da bleiben nicht mehr viele.“ Die letzte Konsequenz zu ziehen und Bus, Zug und Tram kostenlos zu machen, werde „einen Anreiz für den öffentlichen Transport“ schaffen, ist Hahn sich sicher.
Für Bausch dagegen ist die Preisfrage „nicht das Wichtigste“. Für vier Euro einen Tag durchs ganze Land fahren zu können, sei so gut wie konkurrenzlos günstig im EU-Vergleich. „Nur das 365-Euro-Ticket in Wien, wo man für ein Jahresabonnement einen Euro pro Tag zahlt, ist viel besser.“ Gratistransport könnten auch die Grünen sich vorstellen, „aber vielleicht mittelfristig“. Viel wichtiger sei, „dass weiter investiert wird, in die Infrastruktur, ins Rollmaterial, in die Pünktlichkeit und die Informationen an die Leute“. Erst wenn das erreicht sei, könne man an den Nulltarif denken. Bausch bezieht sich auch auf das neue Instrument zur Kosten-Nutzen-Rechnung, das er vergangene Woche vorgestellt hat. „Demnach beträgt der Kostendeckungsgrad des öffentlichen Transports bei uns nur sechs Prozent.“ Senkte man ihn auf Null und das würde wirklich zum Anreiz, „wo sollen die Leute dann mitfahren? Etwa auf den Dächern der heute überfüllten Züge?“
Max Hahn hält das für „grüne Pseudo-Argumente“. Natürlich müsse weiter investiert werden. Die DP werde sogar dafür sorgen, dass „die bisher angekündigten Mobilitätskonzepte noch schneller umgesetzt werden, damit der öffentliche Transport richtig sexy wird“. Aber Max Hahn besteht darauf, dass Nulltarif und Ausbau des Angebots „zwei Paar Schuhe“ seien. Wenngleich er nicht sagen kann, wann die DP, erhielte sie die Gelegenheit dazu, den Gratistransport einführen würde. Zum 1. Januar 2019 „sicherlich noch nicht“. Realistischer wäre vielleicht 2021, wenn die ersten neuen Züge für die CFL geliefert werden sollen, die Teil einer 400-Millionen-Euro-Ausschreibung sind. Allerdings sehen die CFL vor, diese Züge vor allem auf jenen Strecken einzusetzen, die bis dahin ausgebaut sein und mehr Zugverkehr erlauben sollen, in Richtung Wasserbillig etwa. Für die DP folge daraus aber nicht, den Nulltarif in Phasen einzuführen. „Der hat nichts mit dem Infrastrukturausbau zu tun“, insistiert ihr Vizepräsident.
Ob man daraus schließen darf, dass das Gratis-Versprechen der DP von viel Sachkenntnis geprägt ist, fragt sich. Junckers Idee von 2010 war es nicht: Eine Untersuchung, welches Angebot im öffentlichen Transport nötig wäre, damit die Leute vom Auto auf Zug und Bus umsteigen könnten, weil sie dafür genug Kapazität vorfänden, wurde im Nachhaltigkeitsministerium damals nicht gemacht. CSV-Minister Claude Wiseler hatte einige Mühe zu erklären, würde Junckers Idee angenommen, werde man schon ermitteln, was gebraucht wird; man sei ja ohnehin dabei, an Verbesserungen zu arbeiten (d’Land, 13.05.2010).
d’Land hatte sich damals mit dem Schweizer Verkehrsplaner Willy Hüsler unterhalten, der europäische Gratis-Projekte beriet, etwa in Lemgo in Nordrhein-Westfalen. Hüsler meinte, den Nulltarif einzuführen, ehe das Angebot nicht weit genug ausgebaut ist, sei politisch töricht: Ließen nicht genug Leute ihr Auto stehen, werde der Nulltarif angreifbar. Angreifbar sei er außerdem immer, wenn neue, teure Investitionen zu tätigen sind und das Geld dafür knapp ist. „Dann heißt es, muss es diesen Fahrplantakt geben, brauchen wir wirklich so viele Busse? Brauchen wir das Gratisprinzip?“
Konflikte dieser Art besiegelten 2013 den allgemeinen Gratisverkehr in Hasselt: Der Gemeinde waren die Kosten zu hoch geworden. Seitdem fahren in der Hauptstadt der Provinz Limburg nur noch unter 19- und über 65-Jährige gratis, alle anderen zahlen 60 Cent.
In der estnischen Hauptstadt Tallinn, die 2013 für ihre Einwohner zum Nulltarif überging, wurde ein Kniff ersonnen, um die Kosten von Anfang an zu mindern: Pendler von außerhalb müssen sich als Tallinner Bürger registrieren lassen, um Busse und Straßenbahnen gratis nutzen zu können. Das führt der Gemeindekasse Jahr für Jahr automatisch 1 000 Euro Einkommensteuer dieser Leute zu, wie der Chef des Tallinner EU-Büros, Allan Alaküla, vor drei Monaten auf der EU Green Week erklärte, einer jedes Jahr von der EU-Kommission ausgerichteten Veranstaltung, auf der „innovative Konzepte“ vorgestellt werden. Seit 1. Juli führt Estland den Gratistransport landesweit ein, als erstes Land der Welt. Doch für die Gemeinden gibt es eine Opt-out-Möglichkeit, und wie Medienberichten zu entnehmen ist, wird sie auch genutzt.
Aber vielleicht sollte man gar nicht zu genau nachfragen, wie die DP sich ihre Innovation praktisch vorstellt, weil die Partei in erster Linie ein wenig grüner aussehen will und dabei originell und tatkräftig. So wie Parteipräsidentin Corinne Cahen auf dem Kongress am Sonntag erklärte: „Schon in dieser Legislaturperiode hat die DP die ersten Schritte für den Gratistransport eingeleitet, zum Beispiel, indem die Jungen nun kostenlos fahren: das auf Druck der DP!“ Die Anfrage des Land, ob „Druck“ so zu verstehen sei, dass es innerhalb der Koalition keine Einigkeit gegeben habe, gibt Cahen an ihren Vizepräsident weiter, weil der mit dem Land schon in Kontakt steht, und Max Hahn will lieber davon sprechen, dass „die Initiative“ von Bildungsminister Claude Meisch und seinem delegierten Hochschulminister Marc Hansen ausgegangen sei. Auch François Bausch erinnert sich, mit Meisch und Hansen „schnell einig“ gewesen zu sein. „Wenn einer Druck gemacht hat, dann waren das die Studentenverbände.“
Andererseits kann es der DP nicht schaden, das Image einer Partei zu pflegen, die den öffentlichen Transport „sexy“ macht. Es ist zwar schon 20 Jahre her, dass sie das BTB-Projekt torpedierte und Innovationen im öffentlichen Transport um Jahre zurückwarf. So dass Premier und Spitzenkandidat Xavier Bettel sich am Sonntag nicht zu schade sein musste, zu klagen, „wären vor 15 Jahren die richtigen Entscheidungen getroffen worden“, wären heute die Staus nicht so schlimm. Aber vielleicht erinnert der eine oder andere Wähler sich doch, dass vor 15 Jahren die DP den Transportminister stellte und Henri Grethen zu beweisen versuchte, eine „Null-plus-Lösung“ ohne „Zuch duerch d’Nei Avenue“ sei sogar „volkswirtschaftlich“ die bessere Idee.
Dass der Zuspruch für den öffentlichen Transport nicht allein vom Preis abhängt, zeigt das Beispiel Schweiz: „Der öffentliche Transport ist dort bei weitem nicht gratis“, sagt Alain Groff, Chef des Bereichs Mobilität im Bau- und Verkehrsdepartement des Kantons Basel-Stadt. Er hält „das Vertrauen ins Verkehrssystem“ für entscheidend. „In der Schweiz wissen die Leute, dass sie praktisch überall hin kommen. Die Busse und Züge sind fast immer pünktlich, die Anschlüsse stimmen, und die allermeisten Linien verkehren in einem guten Takt, auch sonntags und spätabends.“ Als Luxemburger und Berater von LSAP-Transportministerin Mady Delvaux-Stehres bis 1999 hält Groff das Angebot in Luxemburg „schon jetzt für sehr billig“ und kann sich „kaum vorstellen, dass viel mehr Leute es nutzen würden, falls der Preis auf Null sinkt“. Wichtiger sei, das Angebot übersichtlicher zu gestalten, „weniger Quantität, mehr Qualität“. Einen „großen Schritt nach vorn“ werde der öffentliche Transport in Luxemburg machen, „wenn auch Bürgermeister, Bankdirektoren und Verwaltungschefs ihn nutzen“.
Dass einen Kostenpunkt soll haben dürfen, was einen Wert hat, findet die Präsidentin der Transportgewerkschaft Syprolux, Mylène Bianchy. „Das gilt auch, wenn es sich um eine öffentliche Dienstleistung handelt.“ Und sie erklärt unumwunden, „der Syprolux ist gegen den Gratistransport“. Andernfalls käme „hundertprozentig“ eines Tages die Frage auf, „ob man tatsächlich so viel investieren müsse oder so hohe Subventionen angebracht sind“. Nicht zuletzt sähe die Syprolux-Vorsitzende dann das parastaatliche Eisenbahnerstatut in Gefahr. „Wir haben ja gesehen, wie das in Frankreich ging.“ Der Luxemburger Konsens um den öffentlichen Transport und seine Akteure sei fein austariert, und man sollte die Finger davon lassen.
So entschieden wie die christliche Transportgewerkschaft sieht der FNCTTFEL-Landesverband die Sache interessanterweise nicht. Oder noch nicht: Dem Land wird auf Anfrage mitgeteilt, man habe allen Parteien „Wahlprüfsteine“ zugestellt, und „auch gefragt, wie sie zum Gratistransport stehen“. Bisher habe aber nur eine Partei geantwortet, und erst wenn alle das getan haben, wolle die Gewerkschaft sich äußern. Für den traditionell sehr linken Landesverband ist das durchaus erstaunlich – aber vielleicht auch nicht: Er steht der LSAP nicht fern, und wie das Land am Mittwoch aus LSAP-Kreisen erfuhr, sollte beim Wahlkongress gestern Abend der Nulltarif vielleicht auch ins Wahlprogramm der Sozialisten eingehen. Allerdings sollen Partei und Fraktion sich zumindest am Mittwoch noch nicht einig gewesen sein und Letztere eher dagegen. Eine Anfrage in der Parteizentrale brachte keine Klärung.
Wie die CSV die Sache wohl sieht? Sie will sich dazu nächsten Mittwoch äußern. Dass auch sie den Nulltarif versprechen könnte, ist nicht gesagt: Nicht nur könnte Claude Wiseler aus Ministererfahrung die Dinge ähnlich sehen wie François Bausch. Jean-Claude Junckers Idee zum Index-Nulltarif-Deal fand 2010 CSV-intern nicht übermäßig viel Anklang. Luc Frieden wollte lieber unrentable Buslinien abschaffen, statt auf Ticket-Einnahmen verzichten, und der Abgeordnete Laurent Mosar hielt schon 2004 als Staatsbudgetberichterstatter die Subventionen für den öffentlichen Transport für „eine versteckte Sozialpolitik, die wir uns nicht ewig leisten können“. Wobei damals der Kostendeckungsgrad mit zwölf Prozent noch doppelt so hoch war wie heute.
Andererseits macht François Bausch gegenüber dem Land das überraschende Eingeständnis, während der koalitionsinternen Diskussionen vor der Steuerreform habe auch er für den Nulltarif plädiert. Vorausgesetzt, die Kilometerpauschale wäre so weit gekürzt worden, dass die Mehreinnahmen für die Staatskasse aus der Einkommensteuer den Verlust aus nicht mehr verkauften Tickets ausgeglichen hätten. „Das hätte einen Anreiz zum Umsteigen für die Autofahrer ergeben.“ Der Frage, ob er diese Leute auf den Dächern überfüllter Züge hätte sehen wollen, entgegnet der Transportminister, „so sehr stand ich hinter dieser Idee nun auch wieder nicht“. So dass François Bausch wohl am Ende Recht hat mit einer anderen Bemerkung: Der Gratistransport sei „wie das Monster von Loch Ness“. Irgendwann kann er jedem erscheinen.