Dichscher, André: Franz Pinell

Wirtshausdramatik

d'Lëtzebuerger Land vom 13.04.2012

Eines klassischen Tricks, die Bühnenhandlung in Gang zu setzen, bedient sich André Duchscher in seinem 1899 erstmals gedruckten Drama Franz Pinell, das Claude Conter jetzt in der Reihe der verdienstvollen „Lëtzebuerger Bibliothéik“ neu herausgegeben und kommentiert hat: Traudchen Arnoldy sitzt in der Wirtsstube ihres Stiefvaters, als sie einen Brief von ihrem Verlobten erhält, dem Fabrikbesitzer Franz Pinell, in dem dieser die Verlobung auflöst. Welcher Art die große „Verzweiwelong“ ist, die Pinell zu diesem Schritt drängt, wird erst ein paar Auftritte später deutlich, als sich nach und nach allerlei Arbeiter sowie Würdenträger in dem Wirtshaus einfinden, um bei Bier, Sekt oder Schnaps die neuesten Ereignisse zu diskutieren: Wo Pinells Firma ohnehin gerade in finanziellen Nöten steckt, hat ihn einer seiner engsten Mitarbeiter um einen großen Geldbetrag bestohlen, so dass er den Arbeitern ihren Lohn nicht auszahlen kann. Zu allem Überfluss versucht der verschlagene Batz, der ebenfalls für Pinell arbeitet, die Belegschaft im Namen der sozialen Gerechtigkeit gegen den Chef aufzuwiegeln. Einen eigentlich recht tüchtigen Arbeiter namens Jak hat er an dem Tag dazu verführt, Pinell zu ohrfeigen und seinen Posten dadurch zu verlieren. Wer jetzt meint, er bekäme Jak zu sehen, wie er gegen dieses Schicksal anrennt oder eine Intrige zwischen Batz und dem Fabrikbesitzer oder wenigstens ein Rührstück zwischen Pinell und Traudchen, der hat sich geirrt. Die Figuren, die man für die Hauptfiguren des Dramas gehalten hätte, werden vom Autor erst einmal in die Ecke gestellt.

Schnell zeigt sich, worin das Problem dieses Stücks liegt: Die Handlung vollzieht sich zu weiten Teilen außerhalb der Bühne. Seite um Seite beziehungsweise Auftritt um Auftritt wird im Wirtshaus die „soziale Frage“ diskutiert, die Situation der Arbeiter mal als soziale Ungerechtigkeit bedauert, mal als Frage des Fleißes relativiert, der loyale gegen den undankbaren Arbeiter ausgespielt, der Alkoholismus verdammt, sowie die Armut der Familien und das Missverhältnis von Arbeit und Lohn kritisiert.

Irgendwann ist der zweite Akt zu Ende und auf der Bühne ist immer noch nicht viel passiert: Zwar wurde ein Trunkenbold festgenommen, der im Suff jemanden erstochen hat, aber vom Titelhelden fehlt nach wie vor jede Spur. Bislang besteht nahezu die gesamte Handlung aus Wirtshausgesprächen.

Im dritten Akt tritt dann endlich Pinell auf den Plan; er ist nach wie vor verzweifelt, bricht einen Selbstmordversuch aber ab und ringt sich anschließend dazu durch, sich wieder um seine Fabrik zu kümmern. Zum Arbeiteraufstand kommt es nicht, weil Batz sich mit dem Geld seiner Anhänger aus dem Staub gemacht hat. Am Ende wird er dingfest gemacht, nachdem er die Fabrik in Brand gesetzt hat; Pinell tritt als barmherziger, gerechter Vaterersatz für seine Arbeiter auf und Jak stirbt bei einem Grubenunglück – ausgerechnet an dem Tag, an dem ihn Pinell rehabilitieren wollte.

Anders als in den Dramen des ausklingenden 18. Jahrhunderts, in denen ein bloßer Brief eine schreckliche Katastrophe auslösen kann (man denke zum Beispiel an Schillers Räuber oder Kabale und Liebe), verpufft dieser alte dramaturgische Kniff bei Duchscher im Nichts. Ob der Autor, der in seinem bürgerlichen Dasein selbst Fabrikbesitzer war, in Franz Pinell überhaupt eine dramatische Handlung zeigen wollte, erscheint zweifelhaft.

Wenn sich der Kommentar auch redlich darum bemüht, die Ansätze einer dramatischen Handlungsentwicklung in diesem Stück nachzuweisen, etwa Pinells zu spätes Einschreiten zur Wiedergutmachung im Fall des Grubenarbeiters Jak, so bleibt es dabei doch bei bloßen Ansätzen, die zu keinem Zeitpunkt wahrhaft tragisches Potenzial entfalten. Dass sich Jaks Tod an dem Tag ereignet, an dem sein Schicksal sich zum Besseren hätte wenden können, ist nicht das Ergebnis eines tragischen Handlungsverlaufs, sondern ein unglücklicher Zufall.

In diesem Sinn erweist sich Duchschers Stück auf der Höhe seiner Zeit: Die klassische Dramenhandlung mit ihren wenigen Hauptfiguren, die unschuldig schuldig werden und aufgrunddessen am Ende untergehen müssen, ist einem breiten Gesellschaftspanorama gewichen, das mehr auf die naturalistische Kausalität von Ursache und Wirkung aufbaut als auf die Konsequenzen einzelner tragischer Fehlentscheidungen. „Proletarier“, der Titel, den Duchscher ursprünglich für das Stück vorgesehen hatte, wäre daher ungleich passender gewesen als „Franz Pinell“. Durch die Umbenennung, die der Autor vornahm, um bei den im Jahr der Veröffentlichung anstehenden Kammerwahlen nicht als Sozialist in Verruf zu geraten, scheint es fast so, als würden die Arbeiter auch auf literarischer Ebene entmündigt.

Nicht nur die nahezu inexistente dramatische Spannung erschwert die Lektüre dieses Stücks. Die große Anzahl an Figuren kann hin und wieder verwirren, der Ton ist oft übertrieben rührselig (besonders in den Monologen, in denen Figuren dem Publikum ihre Absichten erklären) und im vierten Akt findet sich kaum eine Figur, die ihr Mitgefühl nicht durch das Vergießen bitterer „Trinnen“ zur Schau stellt. Der Echternacher Dialekt, in dem Franz Pinell verfasst ist, dürfte zusätzlich für viele Leser ein erhebliches Hindernis beim Lesen darstellen, wenn die Worterklärungen am Ende des Bandes auch wichtige Verständnishilfen bieten.

André Duchscher: Franz Pinell. Drama a’ fenf Akten. Lëtzerbuerger Bibliothéik Nr. 18. Vorgestellt und kommentiert von Claude D. Conter. Centre national de littérature, Mersch 2012. ISBN 978-2-919903-97-9
Elise Schmit
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