Kremer, Paul: Wende der Zeit

Irrstern Luxemburg

d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2012

Paul Kremer hat ein ambivalentes, narzisstisches Buch in einem schwarz-braunen Umschlag geschrieben, auf dessen Rückseite schlüssellochartig der Ausblick auf Arkadien freigegeben wird.

Der 68-jährige Professor versteht sich ohne Zweifel als Philosoph; Philosophen attestiert er „keine eigene Meinung“, „kaum einen Glauben, aber mitunter eine Überzeugung“ (S. 6). Er stellt sich mit seinen Gewährsleuten, wie etwa Heidegger, Sokrates, Descartes, Nietzsche undsoweiter bewusst abseits vom Mainstream, erwähnt positiv konnotiert die Skeptiker, die Neoplatoniker, sowie die Kyniker (S. 7). Weiterhin auf „Alt-Nazi“ Heidegger gestützt, reklamiert Paul Kremer für diese Spezies das Recht auf „einen Denk- oder Dicht-‚Stil‘, der nicht in die … Schubladen der allmächtigen Mache und ihres politischen korrekten Diskurses einzuordnen ist“ (S. 11). (Entsprechend werden der Name des Autors sowie der Titel des Buches in weißen Lettern gehalten.)

Um einer zu erwartenden Kritik zu begegnen, erlaubt Paul Kremer dem Leser, „die gelesene Prosa als unstatthaft zu entlarven“, kategorisiert ihn aber zugleich mit den Worten: „Der gutgesinnte Leser mag es nach seinen Maßstäben beurteilen; der böswillige darf sich ärgern“ (S. 11). Die Wertschätzung der Sprache und des Diskurses, die den Konsens fördern sollen, erscheinen Kremer wichtig (S. 6). Er gebraucht sie virtuos, aber auch verschwurbelt und verrät dabei so manches.

Man könnte den Verlauf des Textes als Wellenbewegung sehen. Die Prosa stellt einerseits einen subjektiven Gang durch die Philosophie allgemein dar, andererseits haben wir hier eine Auseinandersetzung mit unserem Staat vorliegen.

Bei dieser düsteren Analyse steht gelegentlich Heidegger Pate: Bereits der Titel Wende der Zeit verweist auf den Mann aus dem Schwarzwald. Der Autor sieht in Luxemburg das Paradigma für den Heideggerschen Begriff des „Irrsterns“ (S. 118). Kremer zieht eine Parallele zwischen dem Altnazi und Luxemburg: Beide sind „Opfer einer Zeitwende“ (S. 131). Auch in religiö[-]ser Hinsicht scheint Luxemburg verloren: „Allah schlägt eben ein Blatt im Kismet um. Wir standen drauf; auf dem folgenden wohl kaum.“ (S. 131) Die Gründe dafür sind vielfältiger Natur. Anscheinend „verleugnet das Rest-Großherzogtum“ „seine eigne Sprache, Land und Leute“ (S. 131). Der Index gerät in die Schusslinie (S. 81), genauso wie das Wahlrecht für EU-Bürger, „Fremde“ bei Gemeindewahlen (S. 84 ff), die doppelte Staatsbürgerschaft (S. 84) und der von den Medien (RTL?) zu verantwortende übermäßige Gebrauch der französischen Ausdrücke im Luxemburgischen, das einst „einen Volksgeist und eine existentielle Stimmung ‚vehikulierte‘“ (S. 82 f.). Die luxemburgische Identität bestehe „recht besehen allein durch sein gesprochenes Idiom, linguistisch als Dialekt zu bezeichnen“ (S. 82). Die zusammenfassende These lautet also: „der Durchschnitts-Luxemburger ist gewillt, Sprachverlust, Landverschandelung, Überfremdung und unendliches menschenfreundliches Gerede hinzunehmen, ‚solang‘ er seine Rente abgesichert wähnt und bis dahin im trauten Eigenheim ….“ (S. 88).

Manchmal kommt es nicht auf ee Grapp voll un: Dass das Luxemburgische von mehr Menschen benutzt wird als jemals zuvor, spielt bei den Überlegungen keine Rolle. Dass der Ausdruck „Fremde“ auch eine xenophobe Konnotation hat, wird bewusst in Kauf genommen – oder sogar provoziert?

Die Begründung für dieses luxemburgische Verhalten liegt nach Kremer darin, dass „uns allen die ‚ratio‘. Nein eher der ‚nous‘ abgeht“ (S. 92) Der Autor schreckt nicht davor zurück, sich mittels einer skurrilen Etymologisierung als die Verkörperung dieses Vernunftprinzips anzusehen (S. 94).

Von dieser Warte aus erscheint es nur selbstverständlich, dass so mancher Philosoph nicht Kremers Gnade findet: So reibt er sich zum Beispiel an Jürgen Habermas, den er gönnerhaft als „Huewermues“ auf Luxemburgisch (S. 26) zurechtstutzt und dessen Vorstellung von Demokratie angeblich unvollständig ist. Selbstverständlich ergänzt Kremer die Lücke beim vielleicht wichtigsten lebenden deutschen Denker.

Dabei hat Habermas noch Glück, denn zumindest kann kann man ihm nicht nachsagen, er sei Jude oder „Halbjude“ wie „der brave Charlie aus Trier“, dessen Kapitalismuskritik „zum sanften Ja-Sager des menschenrechtlichen, freien ‚consentement éclairé‘ führt“ (S. 32). Nebenbei fällt noch ein Seitenhieb auf den „Juden Herbert Marcuse“ (S. 32) ab, der womöglich verantwortlich für „den neomarxistischen Begriff der immer heimlicheren Manipulation“ (S. 32) ist. Laut Kremer ist die „Manipulation“ der Zwischenschritt zum „gutmenschlichen, menschenrechtsgeschädigten Diskurs“ (S. 39).

Karl Poppers Kriterien von Wissenschaftlichkeit werden als „jüdisch“ bezeichnet, außerdem tragen sie den Makel, dass sie „riesige Gebiete des gelebten und erinnerten Lebens ausschließen“ (S. 65). Der Vorwurf läuft ins Leere, da dies nie Poppers Anspruch war. Auch der „Jude Einstein“ (S. 146) beging schwere Fehler, nämlich den „kantischen Determinismus“ und „die absolute, newtonsche Messlatte“ (S. 146) als Fiktionen herauszustellen.

Sowohl im Hinblick auf seine Luxemburg-Analyse als auch beim Streifen der metaphysischen Frage nach Gott stellt sich heraus, dass Kremers Denken an einer einseitigen Definition des Identitätsbegriffs scheitert. (S. 100 ff.). Mit Hilfe des Aussage-Satzes „eins ist“ hangelt Kremer sich zum tranzendenten Gott (S. 102) und zur Behauptung, „jedes Seiende muss seinerseits eins sein, denn was nicht ‚eins‘ ist, zerfleddert in unseren Händen“ (S. 103). Nietzsche meinte zum Zusammenhang von Gott und Sprache: „Wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ (Götzendämmerung)

Luxemburgs aktuelle Identität ist gefährdet. Allerdings führt Kremers Identitätsbegriff auf einen „Holzweg“ – der ja bekanntlich eine Sackgasse bei der Waldbewirtschaftung ist –, da er überhaupt nicht die Möglichkeiten relativer, vager oder vor[-]übergehender Identität in Betracht zieht. Sein Gebrauch des Begriffs, zumindest in Zusammenhang mit Luxemburg, scheint sich einer Art Stammtischdefinition anzunähern, die das Unverrückbare des „mir wëlle bleiwen, wat mir sinn“ meint. „Haben wir, Stammluxemburger, mit Ur-Omi und Ur-Opi vor 1900 unsere Lage bereits bedacht?“ (S. 90)

Zwar weiß Kremer um vergehende Identitäten, wie er es am Beispiel der absterbenden „Entität Mensch“ (S. 155), beschreibt, aber er überträgt diese Erkenntnis nicht auf die Entitäten von Staaten oder auf Gott.

Kremer schätzt sein eigenes Schreiben folgenderweise ein: „Angesichts der sich überpurzelnden Widersprüche bei der Beschreibung unserer Welt-(An)Sicht wäre eine Gewissenserforschung angebracht“ (S. 36) Unnütz zu sagen, dass sie nicht kommt.

Stattdessen stellt er sich kurz darauf in eine Reihe mit philosophischen Tabubrechern: „Nun gehört seit Anfang der Philosophie die Tradition dazu, im freien Denken das Unausgesprochene doch zu hinterfragen. Sokrates, …, hat diese Frechheit mit dem Leben bezahlt. Spätere wurden verfemt…. Wir jetzt auch?“ (S. 41)

Kremer lässt sich aber zumindest ein Hintertürchen offen: Da wir nicht wissen, „was „morgen“ bringen wird“ (S. 132), wird Kremer nicht zum totalen Apokalyptiker, sondern antwortet auf die selbstgestellte Frage: „War das nun das Ende? Um der Schlichtheit willen: Nein!“ (S. 132)

Es ist enttäuschend, dass der größtenteils richtigen Analyse der luxemburgischen Verhältnisse, wie fehlende Nachhaltigkeit, sechsfache Fußspur (S. 77), radikaler changement de société…) entweder nur mit Zynismus oder mit Phobie begegnet wird, anstatt mit einer Utopie. Bei Habermas etwa wäre nachzulesen, inwiefern die Menschenrechte, ausgehend von der Menschenwürde, die Beziehungen zwischen den Menschen definieren und zwar ohne Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden. „Die Gewährleistung dieser Menschenrechte erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben, in ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden.“(Jürgen Habermas, Zur Verfassung Europas, Berlin 2011 S. 21)

Es bliebe noch viel zu erwähnen, etwa die positiv gemeinten Hinweise auf manche andere Philosophen; vollständig gerecht kann diese Rezeption Wende der Zeit nicht werden. Nicht nur die Palästinenser, die Kurden, die Tibeter oder die Yanomami kämpfen um das Überleben ihrer Kultur. Zu wünschen wäre, dass dieser Einsatz unter anderen Vorzeichen stattfindet. Vielleicht hätte der Philosoph besser geschwiegen. Ich hatte mich auf das Buch gefreut. Leider wird so keine fruchtbare Diskussion über die luxemburgische Frage geführt werden können.

Paul Kremer, Wende der Zeit, Éditions Schortgen, 2011, 163 S., 17 Euro
Nico Wirth
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