Er ist zum Schimpfwort geworden: der Neoliberalismus. Mit Gipfelstürmer wagt das Kasemattentheater eine Spurensuche durch seine Erfolge, einen „theatralen Roadtrip durch die letzten 80 Jahre Geschichte“.
Das Stück (Text: Calle Fuhr), das Marco Damghani inszeniert, beginnt slapstickhaft. Philippe Thelen gibt überdreht und Yuppie-like einen der liberalen Vordenker, doch zunächst animiert er das Publikum: „Ich begrüße sie in den heiligen Hallen...“ und bestellt eine Pizza Funghi. Die Pizza mit ihrem weltweiten Siegeszug dient als Klammer und Sinnbild. Am Ende des Stücks gibt Thelen den Pizzalieferanten mit acht Euro Stundenlohn als Symbol der Auswirkungen des Neoliberalismus.
Doch zunächst wird der neue Liberalismus nach 1945 über den grünen Klee gelobt, wenngleich von vorne herein ironisiert. Das Versprechen nach Freiheit und weniger Staat wird verheißungsvoll verpackt. Friedrich August von Hayek (Friedrich) und Milton Friedman (Mille) sind in Fuhrs Theaterstück die beiden Gipfelstürmer.
Im Schweizer Bergdorf Mont Pelerin traf sich 1947 eine illustre Gruppe liberaler (Vor-)Denker rund um Friedrich von Hayek, Walter Eucken und Karl Popper und begründete die Mont Pelerin Society (MPS). Eine idyllische Aufnahme von Mont Pelerin am See wird im Kasemattentheater an die Wand projiziert. Linker Hand der Bühne sind Poster, Flyer und politische Pamphlete angeklebt. Durch einen roten Faden wird während des Stücks sukzessive ein Netz gespannt. Eine passende (Regie-)Idee, um die MPS als Knotenpunkt des neoliberalen Netzwerks zu veranschaulichen.
Thelen animiert überdreht das Publikum: Was ist Neoliberalismus? „Eine Unterwerfung unter wirtschaftliche Regeln für den Ausbau des Raubbaus“. – „Wir wollen unendliches Wachstum auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen“, so die ironischen Kommentare der Schauspieler, die sogleich in die Rollen der neoliberalen Vordenker schlüpfen, allein Karl Popper zeigt sich dabei nicht überzeugt.
Von Aufstieg und Niedergang einer liberalen Wirtschaftstheorie
„Wir erzählen die Erfolgsgeschichte vom Aufstieg einer neuen Wirtschaftstheorie, die bis heute bestimmend ist“, so der Anspruch. Allerdings werden die Ideen und Visionen der neoliberalen Vordenker von Anfang an verballhornt und stark personalisiert. Das Schlagwort „Freiheit“ hängt an diesem Theaterabend wie ein Damokles-Schwert über allem, Versprechen und Kampfbegriff – der „Bösen“, von Thatcher über Reagan bis hin zu Schwarzenegger.
Wir befinden uns im Jahr 1955 in Oxford. Hier beginnt der institutionelle Siegeszug – zunächst mit einer Forschergruppe, einem liberalen Think Thank. „Wir wollen die Chancen der Wirtschaft für die Zukunft erforschen“, erzählt Pitt Simon, und weiter „wir betrachten uns als Non-Profit-Organisation“, während Thelen schnöselig mit Hosenträgern seine zündende Idee verkündet: „Wir erfinden einen Preis, den wir selbst vergeben“. Nora Zrika (gewissenhaft in der Rolle Friedrichs) erklärt dem Publikum, dass Friedman 1976 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften gewann.
Sie wird den Neoliberalismus bewerben, indem sie sich raunend ins Publikum beugt: „Was wäre, wenn wir daran arbeiten, dass Sie nur Ihre Lieblingsfilme sehen?“. Auf den Punkt gebracht: weniger Staat, mehr Freiheit! „I love it“ – „I love the Pizza“ platzt es aus Pitt Simon heraus. Der Name erklingt zu sanftem Glockenspiel verheißungsvoll: „Neoliberalismus“.
1973 geht es weiter: Am Beispiel Chiles habe man (die „Chicago Boys“) eine neoliberale Schocktherapie erprobt. Die Spuren der CIA seien verwischt worden und Allende gestürzt... Die Idee: Über Privatisierung und Preisfreigabe werde Chile „frei von der Tyrannei des Sozialismus“. „Und was ist, wenn es nicht funktioniert?“ wirft Zrika mit verkniffener Miene ein... „Scheißegal!“ Bei den „Kokosnussfressern“ könne man das erproben.
Urkomisch wird auf der Bühne schließlich ein Telefongespräch zwischen Thatcher (Nora Zrika) und Reagan (Pitt Simon eingehüllt in Stars and Stripes) gemimt. Unterhaltsam, wenn auch etwas dick aufgetragen, folgt ein eingeblendeter Clip mit Schwarzenegger, in dem er für Milton Friedman und die freien USA schwärmt.
Am Ende kollektive (Er-)Läuterung!
Rund 30 Jahre später stoßen die zwei Gipfelstürmer vermummt, Hayek sterbend, aufeinander. Wozu das Ganze geführt habe? „Na, zu mehr Freiheit!“, beharrt Milton. „Dank uns ist die Welt frei!“. Hayek zweifelt und bedauert das angerichtete Chaos. Die Idee der Freiheit lebe, sei aber zum Dogma erstarrt! Wenn am Ende ins Publikum gefragt wird: „Wollt ihr das?“, fasert die Inszenierung nach einer guten Stunde etwas pädagogisch aus. Dennoch ist es eine kurzweilige, komische Revue über Etappen des Neoliberalismus, in der das Bewusstsein angeblich die Geschichte macht.