ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Die Volkstümler

d'Lëtzebuerger Land vom 21.04.2023

Mystifiziert oder wirklichkeitsnah drücken kleine Parteien bei Wahlen gesellschaftliche Widersprüche aus. Wenn große Parteien und Medien sie leugnen. Etwa wenn es um die Stimmen einer Wählerschaft geht, die jeden Euro zweimal umdrehen muss, die kein Gehör findet, deren Stimme nicht zählt.

Privat geringschätzen rechte Politiker die Macht- und Mittellosen. Öffentlich reden sie in ihrem Namen. Sie nennen die subalternen Klassen „Volk“. Sie versprechen ihnen, was die „Eliten“ ihnen vorenthalten: Aufmerksamkeit, Würde, soziale Revanche.

Die Antwort auf den globalen Durchmarsch des Neoliberalismus war Nationalismus: Zwischen 1989 und 1994 kandidierten Pierre Petersens Nationalbewegung, Georges Dessouroux mit einer Lëscht fir de Lëtzebuerger, die Nomp der ehemaligen CSV-Politikerin Hilda-Rau Scholtus, die GLS des Sprachreinigers Lex Roth. Sie stellten kapverdische Straßenbauarbeiter und portugiesische Putzfrauen als Bedrohung der Nationalkultur dar. Sie wollten die Landessprache zum Bildungsprivileg auf dem Arbeitsmarkt machen.

Die Splitterparteien blieben erfolglos. Der Nationalbewegung ging das Geld aus. Die ADR füllte die Lücke. Nach dem Rentendësch randalierte sie als Anti-Partei. Nach der Valissen-Affär wollte sie respektabel werden. Statt Globalisierungsverlierer suchte sie enttäuschte CSV-Wählerinnen. Dann schürte das Referendum über das Ausländerwahlrecht den Nationalismus. Die ADR machte nun den Facebook-Chauvinisten Fred Keup zu ihrem Präsidenten und Spitzenkandidaten.

Ein anderer Hoffnungsträger der ADR hieß Joe Thein. Ostentativ zeigte Fernand Kartheisers Schützling seine rechtsradikalen Sympathien. 2017 schloss die ADR ihn aus. Déi Konservativ sind ein Petinger Familienunternehmen. Zur Heilung von Joe Theins Kränkung. Dazu imitiert es grotesk die Rituale einer großen Partei. 2018 bei den Kammerwahlen und 2019 bei den Europawahlen kam es auf ein halbes Prozent der Stimmen. Dieses Jahr kandidiert es in Petingen und Differdingen und im Oktober vielleicht im Südbezirk.

Libertäre Kleinunternehmer hatten die Piraten-Franchise übernommen. Im Wahlkampf 2018 überraschte der Wahlverein mit sozialen Versprechen. Neben Nerds entdeckten Macht- und Mittellose ihn als neue Protestpartei. Zwei Piraten wurden ins Parlament gewählt. Wie einst die ADR spielen sie die Saubermänner. Sie gründeten eine technische Fraktion mit der ADR, fürchteten dann um ihren Ruf.

Die Gründung von Mir d’Vollek enttäuschte die ADR. In der Covid-Krise empfahl Fernand Kartheiser sich den Impfgegnern als parlamentarisches Sprachrohr. Er hoffte, bei den Wahlen dafür honoriert zu werden. Nun haben sie sich als Narodniki verselbständigt.

Fernand Kartheiser tritt als Angehöriger der politischen Elite auf. Mir d’Vollek hasst Eliten: Sie seien diktatorisch. Wie der Ausnahmezustand, die Ausgangssperre und die Massenimpfungen während der Covid-Seuche zeigten.

Mir d’Vollek kandidiert mit einer halben Liste in der Hauptstadt. Für die Kammerwahlen will es Impfgegner von 2021 mobilisieren. Als Revanche der Gründer Jean-Marie Jacoby und Peter Freitag. Sie fühlen sich seit Jahren von der Justiz verfolgt. Doch vielleicht sind die Hunderten von Impfgegnerinnen und Verschworenen zu einer Sekte von ein paar Dutzend Erleuchteten geschrumpft. Die vor der Cité judiciaire ihren Arzt Benoît Ochs als Märtyrer verehren.

Anders als ADR und Piraten lehnt Mir d’Vollek die herrschenden Verhältnisse rundweg ab. Als erste Partei auf der Rechten begründet sie ihre Ablehnung nicht mit Nationalismus. Stattdessen beruft sie sich auf eine Weltverschwörung. Ihr Wahlprogramm Wo wir heute sind warnt vor „The Great Reset“: Das in Davos versammelte Finanzkapital mache sich mit der Covid-„Plandemie“, der „Klima-Religion“ und dem Ukraine-Krieg die Welt untertan.

Verschwörungslegenden sind nützlich. Sie zeigen Candide die Krankhaftigkeit aller Zweifel am „meilleur des mondes possibles“.

Romain Hilgert
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