Vor fünf Jahren verabschiedete das Parlament das Gesetz über den „revenu d’inclusion sociale“ (Revis, Ex-RMG). Es bezwecke „à oeuvrer en faveur de l’inclusion sociale et de lutter contre la pauvreté“ (Projet de loi 7113, S. 8).
Vor fünf Jahren machte die „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohte Bevölkerung“ laut Eurostat 20,1 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Hat das Gesetz die Armut in dem „reichen Land“ beseitigt? Bis 2021 ist der Anteil der Armen nicht auf null gesunken, sondern auf 21,1 Prozent gestiegen. Das Gesetz scheint gescheitert.
Die Armen sind Arbeiterinnen, Arbeitslose, Angestellte, Asylsuchende, Selbständige, Obdachlose, Bäuerinnen. Sie sind wie alle Anderen. Bloß, dass sie kein Geld haben. Oder nur sehr wenig. Drei Viertel der Bezieher von Revis-Zulagen arbeiten und sind trotzdem arm. Alle verbringen schlaflose Nächte mit Rechnen. Sie müssen sich von Sonderangeboten ernähren. Sie kämpfen pausenlos mit Mieten, Rechnungen, Mahnungen und Schulden. Mitschülerinnen in Markenkleidung hänseln sie.
Arme leiden unter den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, gesundheitlichen und kulturellen Folgen der Armut. Heerscharen gutbezahlter Statistiker und Soziologinnen verdrehen die Folgen der Armut zu deren „multidimensionalen“ Ursachen. „On s’interdit en fait de penser que c’est l’argent, ou plus précisément son manque, qui fait la pauvreté“ (Denis Colombi, Où va l’argent des pauvres?, Paris, 2020, S. 79).
Arme dürfen nicht mit ihrem wenigen Geld machen, was sie wollen. Sie werden von der Sozialbürokratie überwacht, gegängelt, bestraft – weil sie nicht genug Geld haben. Leute, die mehr Geld haben, werden nicht überwacht, gegängelt, bestraft. Dafür wissen sie genau, wie Arme mit Geld umzugehen haben.
Das Revis-Gesetz ist nicht gescheitert. Es bezweckte nie das Ende der Armut. Es nimmt sie als naturgegeben hin. Es hilft den Armen, sich in ihr einzurichten. Das fiel sogar dem Staatsrat in seinem Gutachten auf: „[L]e REVIS se situe à 17 pour cent en dessous du seuil de risque de pauvreté pour un adulte seul, [...] et à 25 pour cent en dessous de ce seuil pour un ménage de deux adultes et deux enfants“ (S. 7).
Der Zweck der Sozialhilfe in der gesellschaftlichen Struktur ist, „gewisse extreme Erscheinungen der sozialen Differenziertheit so weit abzumildern, daß jene Struktur weiter auf dieser ruhen kann“ (Georg Simmel, Soziologie, Leipzig, 1908, S. 459). Doch das Unrecht muss gerechtfertigt werden. Deshalb werden die Armen für die eigene Not verantwortlich gemacht. Deshalb müssen sie gedemütigt und verachtet werden. Der wohlgenährte Rechtsanwalt Gaston Vogel giftete im August 2015 in einem offenen Brief gegen „des puanteurs que dégagent les cortèges quotidiens de mendiants dégueulasses“. DP und CSV verbieten die Armen.
Sozialhilfe will „nicht einmal der Tendenz nach die Differenzierung der Gesellschaft in Arme und Reiche aufheben“ (Simmel, S. 459). Deshalb sind die an diesem „Verwaltungszweige wesentlich interessierten Personen an der Verwaltung selbst absolut unbeteiligt“ (Simmel, S. 461). Wollte der Staat die Armut beseitigen, riefe er eine Tripartite zusammen zwischen Armen, Unternehmern und Regierung. Menschen ohne Geld werden nicht als Subjekte angesehen. Sie werden als Objekte verwaltet.
Die Armen sollen arm bleiben. Damit die Armut sie zwingt, für wenig Geld die schwersten, schmutzigsten und monotonsten Arbeiten zu verrichten. Um als Putzfrauen und Pizzaboten das Leben der übrigen Gesellschaft zu erleichtern.
Mit dem Revis wollte DP-Ministerin Corinne Cahen die industrielle Reservearmee für den Niedriglohnsektor „aktivieren“. Der frohgemute Gaststättenbesitzer und LSAP-Kandidat Gabriel Boisante spottet über sein Küchenpersonal: „Wann ee wëll méi verdénge wéi e Plongeur, da soll een an d’Finanze schaffe goen“ (d’Land, 7.10.2022). Auch für ihn ist Armut ein Geschäft.