Als LSAP-Außenminister Jean Asselborn am Mittwochmittag vor die Presse trat, um sich mit Verteidigungsminister François Bausch (Grüne) zur Lage in Afghanistan zu äußern, war nicht zu übersehen, wie stark die ihn bewegt. Er philosophierte lange über „den Kontext“ seit 9/11 und über westliche Werte. Er hob die Stimme, als er sagte, vor 20 Jahren „die Finger von Afghanistan“ zu lassen, wäre „erzfalsch“ gewesen.
Jean Asselborn ist auch Immigrationsminister. In dieser Rolle beklagte er nach dem Ratstreffen der EU-Ressortkolleg/innen am Dienstag vergangener Woche, dass „nicht die Spur einer Chance“ auf eine Einigung auf eine gemeinsame EU-Flüchtlingspolitik und Quoten pro Mitgliedstaat zur Aufnahme von Asylsuchenden bestehe. Und schon vor der kompletten Einnahme Afghanistans durch die Taliban kritisierte er im Berliner Tagesspiegel Deutschland, Österreich, die Niederlande, Dänemark, Belgien und Griechenland, weil sie in einem gemeinsamen Brief an die EU darauf gedrängt hatten, an Abschiebungen afghanischer Asylsuchender mit abgelehntem Antrag trotz der sich zuspitzenden Kämpfe festzuhalten. „Da kann ich nur den Kopf schütteln“, zitierte die Zeitung ihn. Es gebe „keine Garantie dafür, dass die Betroffenen nicht in die Hände der Taliban fallen“.
Mit solchen Worten ist der dienstälteste Außenminister natürlich auch Botschafter eines Finanzparadieses, das sich verantwortungsvoll, liberal und human geben möchte. Dass er darauf verweisen kann, dass seit 2015 „kein Afghane“ aus Luxemburg abgeschoben wurde, scheint dem recht zu geben. Auch wenn es genau genommen eine – isolierte – Abschiebung wegen öffentlich nicht weiter erklärter „Sicherheitsbedenken“ gab.
Doch ganz so human und großzügig, wie Jean Asselborn und die Regierung die Luxemburger Asylpolitik im Ausland aufgefasst haben wollen, ist sie nicht. Natürlich: Welten trennen sie von der Position der ADR, die am Dienstag in einer Presseerklärung kundtat, sie sei „der Meenung, datt Leit, déi elo an Afghanistan a Gefor sinn, sollen an den Nopeschlänner vun deem Land, respektiv prioritär an aneren islamesche Länner, opgeholl ginn, fir do Schutz ze fannen“, und „datt massiv Fluchtbeweegungen a Richtung Europa net néideg sinn an och net kënnen zougelooss ginn“.
Doch die Luxemburger Anwaltskammer hielt es wegen der Lage in Afghanistan für nötig, eine spezielle Kommission einzurichten. Zunächst soll sie Anwält/innen zuarbeiten, die Asylbewerber/innen vertreten. Später könnte sie auch politische Forderungen stellen. Das wirft die Frage auf, wie in der Luxemburger Praxis ein Schutzstatut gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention vergeben wird, Regeln der EU und das nationale Asylrecht ausgewandt werden. Dass am Montag zehn Organisationen, von der Asti bis Amnesty International Luxembourg eine gemeinsame Erklärung an die EU, aber auch an die Luxemburger Regierung richteten und von Letzterer verlangte, abgelehnte Asylanträge neu zu bewerten, scheint in dieselbe Richtung zu zielen.
Als „Flüchtling“ anerkannt wird, wer im Herkunftsland aus politischen, religiösen, rassischen oder sexuellen Gründen verfolgt wurde. Weil das ein strenges Kriterium ist, kann die zuständige Verwaltung im Immigrationsministerium ein „subsdidiäres“ Statut erteilen, falls nach einer Abschiebung „ein relles Risiko“ bestünde, „schweren Gefährdungen“ ausgesetzt zu sein.
„Wenn afghanische Antragsteller in Luxemburg ein Statut erhalten, dann meist das subsidiäre“, sagt die Anwältin und Vorsitzende der Hilfsorganisation Passerell, Catherine Warin. Wer keines erhält, muss innerhalb von 30 Tagen das Land verlassen. Doch die meisten Entscheidungen werden vor Gericht angefochten, bis in die letzte Instanz. Wird dort die Ablehnung nicht aufgehoben, dürfen Afghan/innen seit 2015 dennoch „bleiben“, wie Jean Asselborn immer wieder bekräftigt. Sie könnten dann „ihr Leben machen, eine Arbeit finden. Ich weiß natürlich, dass das nicht leicht ist“, sagte er am Mittwoch wieder. Warin stimmt dem voll zu: „In einer solchen Situation einen Arbeitgeber zu finden, ist extrem schwer.“ Viele der in Luxemburg Ankommenden seien derart beeinträchtigt und traumatisiert, dass es ihnen nicht einmal gelingt, Gelegenheitsarbeiten zu finden.
Dass die beim Barreau eingesetzte Kommission ebenso wie die Hilfsorganisationen auf eine Neubewertung der Gesuche von Afghan/innen drängt, kann man nicht mit Gutmenschentum verwechseln. Ein Blick in jüngste Urteile von Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof (der zweiten Instanz) deutet darauf hin, dass dort eine ähnliche Willkür waltete wie in den von Jean Asselborn vergangene Woche so kritisierten Entscheidungen von sechs EU-Ländern, Abschiebungen nach Afghanistan fortzusetzen, weil das Land nicht überall gleich unsicher sei.
Denn am 4. Januar 2018 hatte der Verwaltungsgerichtshof in einer Urteilsbegründung festgehalten, Afghanistan sei „en proie d’un conflit armé interne“ im Sinne jenes Gesetzesartikels, der bei „violence aveugle“ die Zuerkennung des subsidiären Statuts rechtfertigt. Während das Immigrationsministerium sich diesem Urteil zunächst beugte, gehe es seit ungefähr zwei Jahren wieder „restriktiver“ vor, stellt der Anwalt Frank Wies fest.
Landen die abgelehnten Asylgesuche vor Gericht, kann das zu widersprüchlichen Entscheidungen führen, wenn die Gefahrenlage je nach Region eingeschätzt wird und dazu etwa Berichte der EU-Asylagentur Easo als Referenz dienen.
Urteilen der letzten zwei Monate lässt sich das entnehmen: Am 17. Juni kippte der Verwaltungsgerichtshof die Ablehnung des Asylantrags eines Afghanen, weil dieser aus der Provinz Ghazni stammt. Denn dort herrsche, so die Richter/innen, laut einem Easo-Bericht vom Dezember 2020 „un climat de violence aveugle“. Dagegen hielt der Verwaltungsgerichtshof fünf Tage später eine Asyl-Ablehnung unter anderem deshalb aufrecht, weil der Antragsteller aus einer (im Urteil geschwärzten) Gegend stammt, wo die Sicherheitslage laut Easo besser sei. Desgleichen verwarf die zweite Kammer des Verwaltungsgerichts in erster Instanz am 28. Juli den Antrag eines aus Kabul nach Luxemburg Geflohenen und zitierte gleich mehrere Berichte von Easo und einer Uno-Agentur: In Kabul herrsche nicht so viel Gewalt. 2019 sei die Hälfte aller Menschenopfer unter afghanischen Beamten und Polizisten, Uno-Mitarbeitern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten zu beklagen gewesen. Zu diesen Gruppen zähle der Antragsteller aber nicht.
Dass Kabul keine drei Wochen nach diesem Urteil fallen und das hektische Ausfliegen von Nato-Personal und Ausländer/innen beginnen würde, konnten die drei Verwaltungsrichter/innen natürlich nicht ahnen. Über den schnellen Vormarsch der Taliban in ganz Afghanistan hatten freilich auch Luxemburger Medien berichtet. Und 2019 war Ende Juli 2021 lange passé.
„Geben Sie mir ein wenig Zeit“, bat der Immigrationsmister am Mittwoch auf die Frage, was mit den abgelehnten Gesuchen von Afghan/innen geschehe. Auch dafür, zu überlegen, wie mit Anträgen auf Familienzusammenführung zu verfahren sei: Eigentlich können nur „Kernfamilien“ zusammengeführt werden. Wollen erwachsene Flüchtlinge ihre Eltern nachholen, weil die nicht sicher seien, wird das schwierig. Was Jean Asselborn einräumt. Von den Prinzipien abweichen aber werde man nicht.
Anwält/innen stellen noch etwas anderes fest: „Luxemburg ist sehr streng, wenn es um die Anwendung der Dublin-Verordnung der EU geht“, so Catherine Warin. Die besagt, dass der Asylantrag im ersten EU-Staat gestellt werden muss, den ein Asylsuchender betreten hat. In einen anderen Staat weiterzureisen, ist nicht erlaubt. „Doch da gibt es Spielraum“, sagt die Anwältin. „Die zuständige Verwaltung könnte sagen, der Fluchtweg sei nicht klar und Luxemburg der erste Staat.“ Oft geschehe das aber nicht. Was die Statistik vielleicht bestätigt: Auf bis Ende Juli 878 Asylanträge (aus allen möglichen Ländern) kamen 84 Dublin-Abschiebungen.