Abgestürzt Eva sitzt mit heruntergelassener Hose und gespreizten Beinen neben der Eingangstür. Sie hat sich an die Wand gelehnt, aber ihr Oberkörper will sich nicht recht halten und sackt immer wieder zur Seite auf den Boden. Ihre blonden kurzen Haare sind staubbedeckt, eine Schicht Schmutz hat sich auf ihr Gesicht gelegt, sie wimmert vor sich hin. Urin bahnt sich seinen Weg über den Asphalt. Ein Security-Mann geht mit routiniertem festem Schritt auf sie zu. Zieh deine Hose hoch, befiehlt er ihr in einem höflichen Ton. Eva will nicht. Sie kriegt nicht mit, wie fremde Männer an ihr vorbeigehen, sie verstohlen anstarren und mehr sehen, als allen lieb ist. Eva kriegt mal wieder nichts mit, weil sie besoffen ist.
Erste Phase, Verlust der Heimat Ein Abend im Juni, die letzten Tage der Wanteraktioun sind gezählt. Hierher, zur Wak am Findel, kommen jeden Abend Menschen aus ganz Luxemburg, die nicht mehr wissen, wo sie noch schlafen können. Die Winteraktion soll Menschen ohne festen Wohnsitz vor dem Tod durch Erfrieren schützen, der gewöhnliche Zeitraum von Anfang Dezember bis Ende März ist in diesem Jahr wegen Corona um drei Monate verlängert worden. Das Gebäude steht am Waldrand, gleich nebenan die Polizeistation und das Abschiebegefängnis für Flüchtlinge, die auf Klärung ihres Aufenthaltsstatus warten. Etwa 180 Menschen, hauptsächlich Männer jeden Alters, schlafen jeden Abend hier. Einer von ihnen ist José. Mit 22 Jahren ist er einer der jüngsten. José kommt aus Portugal, Lissabon. Wenn er Fotos seiner Heimat auf dem Handy sucht, zeigt er die Ponte 25 de Abril, die rote Hängebrücke, die auch Golden Gate von Lissabon genannt wird, weil sie nach dem Vorbild der Golden Gate Bridge in San Francisco gebaut worden ist. José auf dem Platz des Kommerz, hinter ihm thront die Reiterstatue des portugiesischen Königs José der Erste. José auf dem Triumphbogen, unter ihm die alte Stadt und vor ihm das Meer. Es sind Fotos aus der Vergangenheit und Bilder, die sich nur allzu gern in Josés Gedächtnis eingebrannt hätten, aber Josés Vergangenheit ist ein Tyrann, ständig stört sie und redet dazwischen. Damals ist sein Leben von der Schiene gesprungen und hat sich seither nicht wieder sauber aufs Gleis setzen lassen, der Zug quält sich ächzend und schlingernd voran, ein Rad knirscht durchs Kiesbett, das andere rumpelt über die Schwellen.
Als José 18 wird, packt seine Mutter die Koffer und flieht mit ihm und den übrigen Geschwistern nach Deutschland. Es ist 2017 und die Krise in Portugal wütet ohne Aussicht auf baldige Besserung. José hofft, dass jetzt alles besser wird. Besser als in Portugal, wo die Mutter mehr Zeit in Kneipen verbringt als zuhause. Die kleinen Kinder sind eingesperrt, Mama hat den Schlüssel mitgenommen und trifft sich mit Männern. Manchmal kommt Mama erst nach zwei Tagen wieder, die Kleinen sind dann völlig ausgehungert und stürzen sich auf Brot und Milch, die Mama mitbringt. Die meiste Zeit essen die Kinder Brot, das sie in Milch tunken, wenn denn gerade eine Schüssel da ist. José sagt, in der Küche sei es wie im Museum zugegangen. Die Mama will selten, dass das Geschirr benutzt wird, es soll vor allem schön aussehen. In der Schule hat José Probleme, dem Unterricht zu folgen. Der leere Bauch sehnt sich nicht nach mathematischen Lösungen. „Meine Mutter war nicht schlecht“, sagt José. „Sie hat nie Alkohol getrunken. Sie hat mich nie geschlagen.“
Zweite Phase, Verlust von Nähe In Mainz ist alles neu. Hier leben sie jetzt. Aber besser? José macht zwei Monate lang einen Deutschkurs, bricht dann ab, weil er lieber arbeiten und sein eigenes Brot verdienen will. Er heuert bei einer portugiesischen Baufirma in der rheinland-pfälzischen Stadt an und geht auf Montage. Aber das Klima in Deutschland macht José zu schaffen. Auch das menschliche. Er ist diese Kälte nicht gewohnt, fühlt sich einsam. Dieses Gefühl legt sich erst wieder, als er seinen neuen Freund kennenlernt. Sein Name ist Koks. Der Weg, den José nun einschlägt, ist von Geschwindigkeit und Nervenkitzel geprägt. Aber meistens bezahlt er nicht für diese Fahrten, in seiner kleinen Wohnung stapeln sich die Bußgeldbescheide, „60 oder so.“ Auch die bezahlt er nicht, „8 000 Euro oder so“, also hilft nur noch Gefängnis. Er ist jetzt 21, strafmündig, also setzt er sich am 28. März 2021 in den Zug – kein Fahrschein – und kommt bis nach Luxemburg.
Wenn José heute von seiner Vergangenheit erzählt, erinnern auch die Zähne daran. Mit dem Koksen hat er aufgehört, wohl gerade noch rechtzeitig, zwei Kronen hat er, zwei Backenzähne nicht mehr, es könnte schlimmer sein. Als José Ende März auf dem Luxemburger Bahnhofsvorplatz steht, fühlt er sich wieder einsam. Kein Mensch weit und breit, gerade hat die Sperrstunde begonnen und sie wird für ihn zur Rettung. Ein Polizist fährt den obdachlosen jungen Mann zur Wak. Drei Monate wird er hier bleiben, im Schlafsaal Dutzende Etagenbetten, an jedem klebt eine Nummer, seine steht auf dem erst roten, dann gelben Armband aus Papier, wer arbeitet, trägt eine andere Farbe. Schnell hat José Arbeit gefunden, auf dem Bau, mal hier, mal da, Interim sei Dank. Wenn die Security-Männer die Menschenschlange um 19 Uhr wieder in das Gebäude lassen – einmal von oben bis unten scannen, danach das Thermometer vor die Stirn – geht es erst zu den Casiers, „ton bracelet, s’il te plaït“, „c’est bon chef, vous pouvez fermer“, und danach in den Speisesaal. Vier Ehrenamtliche der Caritas verteilen hier jeden Abend Sandwiches, zwei Stück pro bénéficiaire, am begehrtesten sind Poulet Curry und Paté. Tee, Kaffee und Suppe gibts unbegrenzt. Die humanitäre Hilfe stößt an ihre Grenzen, als Ramadan heranrückt und Neid unter den nicht fastenden bénéficiaires aufkommt. „Warum kriege ich nur Sandwich und die anderen ein Menü, wo ich doch acht Stunden am Tag arbeite?“ Die Sozialarbeiter vermitteln, beruhigen und glätten wieder alle Wogen. Wer bei der Wak arbeitet, muss zäh sein. Die Polizei muss mehrmals pro Woche anrücken, weil obdachlose Menschen manchmal so verloren sind, dass sie über ihren Durst trinken, die Kontrolle verlieren oder durch zu viel Drogen der Bezug zur Realität gänzlich flöten gegangen ist.
Dritte Phase, Verlust des Schlafplatzes José ist stark geblieben, so gut es eben geht. Er hat der Verlockung namens Genussmitteln widerstehen können, die in der Wak bei manchen Besuchern an der Tagesordnung standen. Am 30. Juni, morgens nach dem Frühstück, schließt die Wak ihre Türen. Weil jetzt keine Ausgangssperre mehr im Land ist. Und weil Sommer ist. Weil José nicht auf der Parkbank schlafen will, macht er sich auf die Suche nach einem Zimmer. Aber das System hat Menschen wie José nicht vorgesehen. Weil er kein festes Einkommen hat, bekommt er auch keine Wohnung. 2 100 Euro Netto im Monat und acht Stunden am Tag bei Wind und Wetter als Maurergehilfe auf der Baustelle stehen genügen nicht, um einen sauberen Schlafplatz zu bekommen. Ein-Wochen-Verträge von der Zeitarbeitsagentur sind keine Sicherheit. Stéphanie Gardini spricht von einer „sehr prekären Situation.“ Die Sozialarbeiterin, die bei Médecins du Monde in Bonnevoie und Esch arbeitet, hat festgestellt, dass immer mehr Menschen zu ihr kommen, die Interimverträge von nur drei bis vier Tagen haben. Da werden Löcher gestopft, die die abhängigen Zuwanderer ohne Widerrede annehmen. Hinzu komme eine „saisonale Ausbeutung“. Wenn die Wak von Dezember bis März oder länger aufmacht, sind die Arbeiter dort untergebracht. Der Arbeitgeber, der früher auch schon mal Arbeiterwohnungen oder -zimmer bereitgestellt hat, muss sich während dieser Periode um nichts mehr kümmern. Essen und Bett gibts bei der Wak, zu zahlen braucht der Arbeitgeber auch nur noch das Minimum. „Die Arbeitgeber profitieren vom Staat“, sagt Gardini.
Die Winteraktion auf dem Findel ist humanitäre Hilfe, niemand soll erfrieren. Aber das strukturelle Problem der Wohnungsnot in Luxemburg lässt sich damit nicht lösen. Deshalb will Gardini, dass die Wak das ganze Jahr über offen bleibt. „So bekommen die Arbeiter wenigstens kontinuierlich soziale Unterstützung, können begleitet werden und bleiben nicht irgendwo verloren zurück.“ Gardini hat eine Petition gestartet: Nummer 1918 fordert, die Obdachlosenunterkunft in der Rue de Neudorf ganzjährig zu öffnen. Sieben Tage bleiben noch, um zu unterschreiben. Doch die Sozialarbeiterin ist ratlos. „Es sind noch nicht einmal 300 Unterschriften eingegangen, ich frage mich, wo all meine Kollegen sind.“ Sie sagt: „Wir haben doch eine soziale Verantwortung.“ 4 500 Unterschriften sind nötig, damit der Petitions-Ausschuss in der Chamber Stellung zu dem Thema nimmt.
Letzte Phase, Verlust der Würde Am 30. Juni dringt José mit seinem portugiesischen Freund Fernando, den er bei der Wak kennengelernt hat, in ein leerstehendes Haus in Esch ein. Es ist einer der Tage, an dem sich der Regen nicht mehr beruhigen will und der wenige Tage später ein ganzes Land in Schock und Chaos versetzen wird. Zwei schwarze Müllsäcke mit Kleidung in den Händen, eine speckige Matratze auf den Schultern, beziehen die beiden einen Raum in der dritten Etage. Sie haben sich den Raum ausgesucht, den sie am schnellsten vom Dreck befreien können. Überall sonst bleiben verdorbene Essensreste zurück, leere Wasserflaschen, Kondome, Zigarettenstummel, Alupfännchen, Aschereste, dreckige Hosen, einzelne Schuhe. Was noch bleibt: dieser Geruch. Überall liegen Haufen von Scheiße. Oben, unten, in jedem Zimmer. Wenn es kein fließend Wasser mehr gibt, keinen Strom, keine Toiletten, muss sich der Mensch anders helfen. Im Stockwerk drunter „leben“ sechs Rumänen. „Aber weil die oft laute Musik hören, ist eines Abends die Polizei gekommen“, erzählt José. Also muss er mit Fernando weiterziehen. Seit Mitte Juli haben sie einen neuen Unterschlupf, wieder ein leerstehendes Haus, überall aus den Decken hängen abgenutzte Stromkabel herunter, die Tapeten sind vergilbt, eine Mülltonne im Erdgeschoss fängt das hereintropfende Regenwasser auf, zum Duschen müssen ein paar Wasserflaschen aus dem Supermarkt reichen, die Jalousien bleiben unten, damit niemand von draußen Verdacht schöpft. Da steht er nun, der Junge mit den schwarzen Haaren, die ihm fast bis zum Po reichen und die er meistens zu einem Dutt nach oben gebunden hat. Das Gesicht ist schmal und gebräunt, seit José im kollektiven Urlaub ist, geht er jeden Tag ins Solarium, er braucht die Wärme. „Ich hätte es schlimmer treffen können“, sagt José. „Ich mache mir am meisten Sorgen um Fernando.“ Der 33-Jährige hat Darmkrebs. Ein Jahr noch, maximal zwei, hätten ihm die Ärzte gesagt. Wenn er sich nicht behandeln lässt. Aber weil er nicht versichert ist, wenn er bei der Zeitarbeitsfirma aussetzt, um ins Krankenhaus zu gehen, schleppt er sich jeden Tag um fünf Uhr aus dem Bett zur Baustelle. Auch wenn er Schmerzen hat. „Ich will, dass er ein Zimmer findet, dass er zur Ruhe kommt“, sagt José. „Ich will nicht, dass er in diesem Loch stirbt.“