Der grüne Verteidigungminister François Bausch erkennt bedeutende sicherheits- und geopolitische Veränderungen in und um Europa. Das neoimperiale Verhalten Russlands führte vor fünf Jahren zur Annexion der Krim und war die erste gewaltsame Veränderung völkerrechtlich anerkannter Staatsgrenzen seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Die militärische Unterstützung der Sezessionsbewegung ethnisch russischer Teilgebiete in der Ost-Ukraine ist Teil der Bestrebungen, ehemals imperiales oder sowjetisches Glacis wiederherzustellen. Insofern ist westliche militärische Ertüchtigung legitim und notwendig. Verteidigungsfähigkeit, so Bausch, sei keinesfalls mit Aggression gleichzusetzen1.
Donald Trump hat seit seiner Wahl zum US-Präsidenten ganz offen Geringschätzung für Multilateralismus und Allianzen gezeigt. „… die amerikanische Politik basiert nun auf einer volatilen Mischung von knallhartem und unsentimentalem Großmachtkalkül, unerbittlichen innenpolitischen Kämpfen und dem Bauchgefühl des US-Präsidenten2“. Für François Bausch hat sich die schon vorher bestehende Notwendigkeit von eigenständigen europäischen Verteidigungsanstrengungen verstärkt und eine zusätzliche Dynamik entwickelt. Im Rahmen der EU müssten Deutschland und Frankreich, auch und vor allem im Bereich der militärischen Fähigkeiten der EU, die Führungsrolle übernehmen3. In der Vergangenheit gab es diesbezüglich insbesondere seitens des Vereinigten Königreichs stets gegenläufige Bestrebungen4. Der Brexit räumt aber nicht alle Hindernisse aus dem Weg, da Deutschland und Frankreich in der Militärpolitik historisch und militärkulturell nicht unbedingt deckungsgleiche Interessen und Ansätze verfolgen5.
Antworten von Nato und EU auf die veränderte Lage
Prominenz unter den Maßnahmen hat zweifellos das Zwei-Prozent-Ziel der Nato-Staaten erlangt, das auf dem Nato-Gipfel vom 4. bis 5. September 2014 in Wales beschlossen wurde6. Die Nato-Staaten vereinbarten dort, ihre Militärausgaben bis 2025 an zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) anzunähern. Erhoben wurde diese Forderung seitens der jeweiligen US-Präsidenten schon länger, aber virulent wurde sie durch Trumps Drohung, militärischen Beistand nach Artikel 5 des Nato-Vertrags nur noch quasi gegen Vorkasse, sprich den geforderten Anteil am jeweiligen BIP, zu leisten. Prinzipiell kann man die Koppelung an ein konjunkturell schwankendes BIP hinterfragen, weil dies eine Militär- und Sicherheitspolitik nach Kassen- und nicht nach Bedrohungslage bedeuten würde. Deutschland als europäischer Wirtschaftsgigant käme mit zwei Prozent seines BIP auf ein Militärbudget von circa 75 Milliarden Euro und wäre somit nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Militärgigant – was vor dem Hintergrund der Geschichte bei Rest-Europa Reminiszenzen wecken könnte.
Das von Trump forcierte Zwei-Prozent-Ziel klingt zunächst fremd, aber in der Zeit des Kalten Krieges betrugen die Verteidigungsbudgets durchschnittlich drei bis vier Prozent des BIP, wobei nicht alle Ausgaben im Verteidigungsbudget erschienen, sondern teilweise in anderen Budgetposten belassen wurden. Luxemburgs Verteidigungsausgaben waren praktisch von der geostrategischen Weltlage entkoppelt und von herausragender Winzigkeit. Weiter wurde die „NATO Enhanced Forward Presence“ eingeführt. Sie sieht in einem Rotationsverfahren die ständige Präsenz von Nato-Truppenteilen zur Abschreckung Russlands auf dem Baltikum und in Polen vor7. An dieser Maßnahme beteiligt Luxemburg sich aktiv.
Die EU hat ab März 2014 sowohl diplomatische wie auch wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verhängt. So wurden die G8-Gespräche im russischen Sotschi durch einen G7-Gipfel in Brüssel ersetzt, und es wurden Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten gegen Personen und Institutionen in Kraft gesetzt. Handelsbeschränkungen gegen die Krim, Sewastopol sowie Russland bei Kapitalmarkt, Waffen, Dual-Use-Gütern und Erdöltechnologie wurden erlassen. Investitionen der Europäischen Investitionsbank (BEI) und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) wurden gestoppt, beziehungsweise zurückgefahren. EU-Programme für bilaterale und regionale Zusammenarbeit mit Russland wurden neu bewertet und bestimmte Programme ausgesetzt8. Nato-Partner und Australien haben teilweise noch weitergehende Sanktionen verhängt. Auf militärischem Gebiet hat die EU auf dem Gipfel von Bratislava im September 2016 beschlossen, neue Dynamik im Bereich externer Sicherheit und Verteidigung in Europa durch Verstärkung der EU-Zusammenarbeit herbeizuführen. Hierzu gehören:
– Koordinierte jährliche Überprüfung der Verteidigung, um die Zusammenarbeit zu verbessern;
– Einführung einer Ständigen strukturierten Zusammenarbeit (Pesco);
– Einrichtung eines militärischen Planungs- und Durchführungsstabs (MPCC);
– Verstärkung des EU-Krisenreaktionsinstrumentariums, einschließlich der EU-Gefechtsverbände und zivilen Fähigkeiten9.
Interessant ist das Verhalten der skandinavischen EU-Länder und Nicht-Nato-Mitglieder Finnland und Schweden. Neben Sanktionen haben beide ganz konkret und direkt militärisch reagiert und die Wehrpflicht wieder eingeführt, beziehungsweise die Zahl der Reservisten deutlich erhöht. Schweden10 und Finnland11 haben Gastland-Abkommen (Host Nation Support Agreements) mit der Nato getroffen. Diese skandinavischen Länder sind noch nie durch besondere militärische Profilneurosen aufgefallen, insofern muss der auslösende Reiz aus ihrer Sicht überaus deutlich gewesen sein.
Konkrete Veränderungen der Luxemburger Militärpolitik
Der eingangs beschriebene Wandel des sicherheitspolitischen Klimas schlug sich konkret erstmals im Regierungsdokument Lignes directrices de la défense luxembourgeoise 2025+ (Leitlinien der luxemburgischen Verteidigung 2025+) vom 1. Juli 2017 nieder. Diese „… legen den Rahmen für die Entwicklung der luxemburgischen Verteidigung fest und beschreiben die politische Orientierung, die von der Regierung für die nächsten Jahre genehmigt wurde. Sie definieren die Interessen und Ziele, die Luxemburg in Sachen Verteidigungspolitik verfolgt, und bekräftigen den Nutzen, die Glaubwürdigkeit und die Sichtbarkeit der nationalen Bemühungen im Rahmen der internationalen Beziehungen des Großherzogtums12“.
Voraus ging eine Erklärung des Generalstabchefs, wonach der Schwerpunkt nunmehr nach 25 Jahren wieder auf der kollektiven Territorialverteidigung liege: „L’instabilité géopolitique, qui ne se résout plus uniquement par l’application de solutions politiques, suscite l’engagement perpétuel de l’armée. Par conséquent, la défense luxembourgeoise a dû se réorienter pour répondre à cette nouvelle réalité: si ces dernières 25 années nous avions mis l’accent sur la gestion de crise, aujourd’hui nous devons nous focaliser sur la défense collective.13“ Die grundsätzliche strategische Neuausrichtung bedingt entsprechende Anpassungen bei Rollenbild und Aufgabenspektrum der Armee. Die in den Lignes directrices skizzierten Änderungen liegen deutlich vor Trumps medialem Gepolter um die Zwei-Prozent-Vorgabe.
Das neue Armeegesetz solle sicherstellen, dass militärisches Personal und Mittel im Bedarfsfall schneller und unbürokratischer zum Einsatz gebracht werden können, was insbesondere in Fällen von Naturkatastrophen entscheidend sei14. Waren bisher der Staatsrat und die parlamentarische Präsidentenkonferenz (Fraktionsvorsitzende und Kammerpräsident) in den Genehmigungsprozess eingebunden, soll künftig lediglich die zuständige Parlamentskommission konsultiert werden. Diesbezüglich kommen sowohl von links wie auch von der Armeegewerkschaft Einwände. Militärisches Abenteurertum unterstellt man dem grünen Verteidigungsminister sicher nicht. Es bestehen grundsätzliche Bedenken betreffend die politische Entscheidungshoheit über den Einsatz des Militärs. Das nationale Trauma der verlorenen Generation der Zwangsrekrutierten in östlichen Steppen wirkt offensichtlich generationsübergreifend nach.
Bausch steht einer weiteren Öffnung der Armee für EU-Ausländer „tabulos“ gegenüber15. Hintergründe sind einerseits die erwartbare grüne Haltung zu Fragen der Nationalität, aber andererseits auch praktische Erwägungen. Fachpersonal für militärische Drohnen-, Flugzeug-, Satelliten- und Kommunikationstechnologie sei aus dem verfügbaren Rekrutierungspotenzial der Luxemburger Passinhaber nicht ausreichend zu gewinnen. Hier stehe die Armee mit anderen staatlichen und privatwirtschaftlichen Bedarfsträgern in Konkurrenz auf einem sehr schwierigen Personalmarkt. Hinzu komme eine spezifische Grundhaltung der jungen IT-affinen Generation. Eine lebenslange Beamten- oder Offizierslaufbahn wirke eher abschreckend. Rekrutierungsmodelle, wie etwa eine Studienfinanzierung im Gegenzug für eine bestimmte Verpflichtungszeit, würden diskutiert. Insgesamt müsse die Armee wie jeder Arbeitgeber ein attraktives Umfeld für potenzielle Bewerber bieten16.
Der vergleichsweise offenen Haltung des grünen Ministers zur Nationalität Luxemburger Soldaten steht die Haltung der Armeegewerkschaft sowie der CGFP entgegen. Sie gehen weiterhin von einem zwingenden Konnex von (Berufs-)Soldat und Staatsbürgerschaft aus. Für Bausch soll eine eventuelle Öffnung für Ausländer allerdings keine Posten im Rahmen der Befehlskette vorsehen. Ausländer würden gegebenenfalls als technische Experten und Fachvorgesetzte im Offiziers- oder Unteroffiziersrang fungieren, nicht jedoch als Truppenführer17. Anzumerken ist hierbei, dass Bedenken hinsichtlich einer eventuell geteilten Loyalität derzeit schon durch die gelebte Praxis im Rahmen der „composante aérienne“ überholt sind. Insofern funktioniert hier schon, was anderweitig in multinationalen Truppenverbänden noch Zielvorgabe ist.
Das neue Armeegesetz schaffe, analog zur Polizei, unter anderem eine mittlere Laufbahn und werde, laut Bausch, den gestiegenen Anforderungen an Unteroffiziere sowie veränderten akademischen Abschlüssen gerecht18. Armee und Polizei verabschieden sich somit im Bereich der formalen Bildung von ihrer historisch gewachsenen Zweigliedrigkeit und gleichen sich dem dreigliedrigen System der allgemeinen Staatslaufbahn sowie noch weiteren Verästelungen an. Hauptmotivation der Armee-Freiwilligen ist überwiegend eine Anschlussverwendung bei öffentlichen Arbeitgebern. So sei angedacht, staatliche Einrichtungen durch Wachleute aus den Reihen abgehender Armee-Freiwilliger bewachen zu lassen, was derzeit vielfach durch private Sicherheitsfirmen geschieht19. Bedarf an geeignetem Personal besteht sicherlich auch im Rahmen der zu schaffenden Polizeieinheit zur Überwachung des öffentlichen Personenverkehrs. Die Frage einer Reserve-Armee beziehungsweise Armee-Reserve über medizinisches Personal mit besonderem Statut hinaus werde derzeit, genau wie ein Armee-Lyzeum, nicht thematisiert20.
Laut Bausch sei im Bereich der europäischen Verteidigung das Zusammenspiel von Frankreich und Deutschland für ein Vorankommen entscheidend. Dies auch im Hinblick auf die durch den anstehenden Brexit verursachte Unsicherheit. In verschiedenen Gremien spüre man, dass die USA eine Einigung der Europäer im Bereich der Verteidigung nicht fördern. Für Luxemburg böte sich, so Bausch, ein Ausbau der schon bestehenden Kooperation im Rahmen von Benelux an, die durchaus über den Bereich der Beschaffung und Ausbildung hinaus auch das Operative betreffen könne. Eine Kooperation zwischen kleineren Ländern mit vergleichbarem Hintergrund sei einfacher zu gestalten als ein Zusammenwirken mit großen wie Frankreich oder Deutschland21.
Belgische und luxemburgische Soldaten bilden gemischt-nationale Besatzungen an Bord von Transportflugzeugen vom Typ C-130 Hercules und demnächst A-400M. Darüber hinaus wird das „air-policing“, das heißt der Einsatz von Abfangjägern, seit 2017 im Benelux-Luftraum abwechselnd durch belgische und niederländische F-16-Kampfflugzeuge geleistet22. Die Ausbildung luxemburgischer Offiziere und Unteroffiziere findet seit Jahrzehnten überwiegend in Belgien statt. Bei den Beneluxstaaten handelt es sich um Länder mit historischen kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen. Sie teilen die Staatsform konstitutionelle Monarchie, demokratische Stabilität und eine militärische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, in dem die nationalen Truppenteile in die britischen Streitkräfte integriert waren.
Unabhängig von der Weltlage stehen bauliche Maßnahmen an den Luxemburger Armee-Infrastrukturen an. Neben der seit Jahrzehnten überfälligen und mittlerweile in Ausführung befindlichen Erneuerung der Kasernenanlage Herrenberg sei nunmehr auch die Grundsanierung des Schießstands Bleesdall und des Munitionsdepots Waldhaff in der konkreten Planung. Der Schießstand benötige darüberhinaus auch eine Dekontamination aufgrund des Vorhandenseins von Schadstoffen23. Die materielle Ausrüstung der Armee, erklärt Bausch, werde sich auch weiterhin am traditionellen Schwerpunkt der militärischen Aufklärung orientieren. Die Ausstattung werde sich jedoch von eher gendarmerietypischen Missionen der Überwachung im Rahmen der Konfliktnachsorge wieder hin zu den Notwendigkeiten des konventionellen Gefechts zur Bündnisverteidigung entwickeln. Dies bedeute, dass klassische militärische Aufklärung zu Fuß beziehungsweise mit Fahrzeugen durch Satelliten, Drohnen und elektronische Mittel teilweise ersetzt, beziehungsweise ergänzt würden. Der vorhandene Fahrzeugbestand, das heißt die redundanten Fahrzeuge des Typs Dingo, seien dementsprechend zumindest teilweise durch geeignetere Fahrzeuge beziehungsweise Mittel zu ersetzen.
Die Armee werde außerdem mit dem Notwendigen ausgestattet, um ihre Aufgaben im Inneren künftig angemessen erfüllen zu können. So sei unter anderem moderne Schutzausrüstung beschafft worden, beziehungsweise sei im Zulauf24. Gleichermaßen spektakulär wie kostenintensiv nehmen sich die Hubschrauber aus, die laut Lignes directrices angeschafft werden sollen, oder besser: sollten. Mittlerweile wird Abstand von diesem belgisch-luxemburgischen Vorhaben genommen. Die Maschinen vom Typ NH90 seien, so Bausch, für Luxemburg aufgrund ihrer Größe schlicht ungeeignet und dürften regulär lediglich auf dem Flughafen Findel landen. Auch Belgien dränge derzeit nicht auf die Anschaffung. Eine alternative Anschaffung baugleicher militarisierter Helikopter des für die Polizei bestellten Typs Airbus H145M werde derzeit geprüft. Alles hänge von einer Bedarfsanalyse im Bündnisrahmen ab. Sollten für eine sinnvolle Nischenfähigkeit Hubschrauber erforderlich sein, so würden diese beschafft25.
Kulturkampf oder besser: Kampf um die Kultur
Das Ende des Kalten Krieges wurde als ultimativer Sieg des an die liberale Demokratie gebundenen Kapitalismus gesehen. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama schrieb vom „Ende der Geschichte“: Die liberale Demokratie habe sich gegen alle anderen Modelle von Staats- und Wirtschaftssystemen durchgesetzt. Mängel gebe es zwar noch in der praktischen Umsetzung, aber nicht mehr bezüglich des Prinzips. So habe sich die westliche Demokratie als Regierungsform überall durchgesetzt, sei die „final form of human government” erreicht – und damit das Ende der Geschichte26.
Eine weniger optimistische Sicht der zukünftigen Dinge hat der ebenfalls US-amerikanische Politologe Samuel Huntington in seinem Werk The Clash of Civilisations27 präsentiert. Huntington nahm an, das Ende des Ost-West-Konflikts werde nicht zu immerwährendem Frieden führen. Vielmehr stünde eine neue, unübersichtlichere und bedrohliche Konfliktlage an: ein globaler Kampf der Kulturen. Der Westen, Russland, China, Indien, die arabische Welt und andere Teile der Erde würden sich, so Huntington, mit ihren unvereinbaren kulturellen Mustern, Traditionen und Wertvorstellungen gegenüberstehen. Es sei die Differenz zwischen diesen Kulturen, die eine neue Runde von Konflikten, auch gewaltsamer Art, entstehen lasse28.
Beiden Werken ist gemein, dass sie sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der Wissenschaft überaus kontrovers rezipiert wurden. Beide Autoren lagen mit ihren Prognosen teilweise richtig, beziehungsweise falsch. Die schärfer werdende Konfrontation zwischen den Kulturräumen ist Realität. Auch entspricht die zwingende Verknüpfung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft nicht der ostasiatischen Realität, beziehungsweise dem osteuropäischen Leitbild. Kulturelle Grenzen verlaufen nicht nach den Vorstellungen von Romantik und Nationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts entlang nationalstaatlicher Grenzen. Abweichend von Huntington findet kein simpler Kampf der Kulturen, sondern ein globaler Konflikt um die Kultur statt. Einerseits eine kosmopolitische, marktförmige und individualistische Hyperkultur der Postmoderne. Anderseits eine Idee von Kultur als essenzialistischer historischer Gemeinschaft. Sie umfasst Spielarten der Identitätsgemeinschaft vom religiösen Fundamentalismus bis zum ethnischen Nationalismus. Ein grundsätzlicher Widerstreit tut sich auf, wenn beide, die postmoderne Hyperkultur und der traditionale Kulturessenzialismus, aufeinandertreffen29.
Der Dualismus von Hyperkultur und primordialer, beziehungsweise essenzialistischer Kultur, das heißt vom jeweils Richtigen und Falschen, Guten und Bösen, Erlaubten und Verbotenen, Tabu und Erwünschten spielt sich nicht zwingend entlang staatlicher Grenzen ab, sondern zieht sich auch durch ganze Gesellschaften. Die westlichen Phänomene Trump, Bolsonaro, Brexit, Gilets Jaunes, La France Insoumise sind per se keine Politik, sondern ein Politikstil gegen wirtschaftliche und soziale Erscheinungen der kosmopolitischen, globalisierten Hyperkultur.
Kulturell konträr ausgerichtete Bewegungen finden sich in anderen Regionen der Welt, wie im Arabischen Frühling oder in den oppositionellen Strömungen im postkommunistischen Russland beziehungsweise in China. Die Hyperkultur ist geprägt von Marktrationalität, digitaler Vernetzung, gesellschaftlichem Liberalismus, politischem Pluralismus, Inklusion von Minderheiten, Emanzipation, transversaler und transnationaler Identität. Ihr gegenüber steht die essenzialistische, primordiale und traditionale Kultur. Der deutsche Romantiker Herder (1744-1803) postulierte, Kultur sei durch eine „natürliche … Fremdheit“ geprägt. Er geht weiter von der stabilisierenden Kraft von „Vorurteilen“ aus, die die Völker „zu ihrem Mittelpunkt zusammendrängen30“. Jedem Kollektiv ist somit eine in sich homogene Lebensform eigen, und das Individuum partizipiert einzig an diesem seinem Kollektiv eigenen Sinnsystem. Die Eckpunkte des traditionellen Kulturkonzepts31 sind:
Primordialität: Die Merkmale Geburt, Herkunft und Ethnie sind nicht willentlich veränderbar, das heißt die Zugehörigkeit liegt jenseits willentlichen Handelns oder sozialen Vertrags. Die Zugehörigkeit zum Kollektiv wird durch eine vorpolitische Größe bestimmt.
Kohärenz und Homogenität: Kultur ist ein einheitliches Ganzes, das in sich homogen beschaffen ist. Man kann also zu der sozialen Gruppe Nation nur dazugehören oder eben nicht. Daher zum Beispiel die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft. Ebenso kann man auch nur Teil der Nation sein, wenn man sich der kulturellen Homogenität, zum Beispiel Religion oder Sprache, unterwirft.
Separatismus und Territorialität: Kultur tritt laut Herder in verschiedenen Paketen oder Kugeln auf, und das Verhältnis zueinander ist durch Fremdheit oder Inkompatibilität sowie durch geografische Grenzen markiert.
Die Versuche, Kultur, Staatsgebiet und Ethnie zur Deckungsgleichheit zu bringen, haben praktisch alle Kriege des 20. Jahrhunderts in Europa verursacht. Prominentestes Beispiel ist Nazi-Deutschland, das versucht hat, unter Parolen wie „Blut und Boden“ und „Heim ins Reich“ vor allem die deutschen Streusiedlungen mit den „Volksdeutschen“ in Ost- und Südosteuropa dem Reichsgebiet einzugliedern. „Fremdvölkische“ wurden vertrieben, versklavt oder industriell vernichtet.
In Jugoslawien kam es in der Ära nach Tito in einer Gemengelage aus ökonomischen und ethnisch-religiösen Spannungen zu Zerfallskriegen, in deren Verlauf ethnische Säuberungen durch Vertreibung und Tötung der jeweils anderer Volksgruppen geschahen. Der postkommunistische serbische Parteisekretär Milosevic legte hierbei den aggressivsten Expansionismus an den Tag.
Aktuell prominentester Fall ist die Krim und die Ost-Ukraine. Zugrundeliegende wirtschaftliche Spannungen werden ethnisch-religiös und territorial aufgeladen. Die Einheit im Innern wird klassischerweise durch eine selbst provozierte Bedrohung von außen unter Aktivierung ethnisch-religiöser und historisierend-patriotischer Instinkte geschaffen, beziehungsweise reaktiviert. Ein reaktionärer Klerus verschafft dem ehemaligen Geheimdienstoffizier Wladimir Putin zusätzliche Legitimation unter dem historischen Titel eines „Sammlers Russischer Erden“, dem funktionalen Äquivalent der NS-Parole „Blut und Boden“.
Legitimation des Militärs aus grüner Sicht
Der beschriebenen traditionalen Kultur ist häufig die Ablehnung sozialen Wandels und der offenen Gesellschaft und insbesondere die Verherrlichung und Idealisierung des jungen männlichen Kriegers inhärent. Diese toxische Männlichkeit wird geradezu paradigmatisch bis karikaturhaft durch politische Figuren wie Putin und auch Erdogan dargestellt. Wobei unklar bleibt, ob es sich um die wahre Natur der Protagonisten handelt oder ob sie ein bestimmtes Bild von sich bewusst produzieren und instrumentalisieren. Dies kann nur funktionieren, wenn in der jeweiligen Gesellschaft eine ausreichende Zahl von Mitgliedern dieses Ideal teilt, beziehungsweise sich dafür gewinnen lässt, um politisch wirkmächtig zu sein oder zu werden. Teile dieser Klientel lassen sich auch zu Demonstrationen beziehungsweise gewalttätiger Machtausübung mobilisieren.
Die globale Emanzipationsbewegung hinterfragt, erschüttert und delegitimiert zunehmend tradierte Rollenbilder von Männlichkeit, insbesondere in patriarchalen Gesellschaften. Eine sich modernisierende und digitalisierende Arbeitswelt erschwert es vor allem jungen Männern mit niedriger Bildung, die Rolle des Ernährers einer Familie wahrzunehmen. Traditionale männliche Identifikationsfiguren und Narrative bieten identitäre Sicherheit in Zeiten globalen Drucks sozialer, wirtschaftlicher und legitimatorischer Art auf das erwähnte männliche Rollenbild des jungen Kriegers und Ernährers, der sein Volk in Zeiten der Gefahr beschützt und dafür mit Ruhm, Ehre und Erfolg bei Frauen belohnt wird.
Symbolhaft stehen für diesen kulturellen Konflikt einerseits Bewegungen und Initiativen wie Pussy Riot, Femen und die Union der Soldatenmütter Russlands, andererseits die Motorrad- und Rockergang „Nachtwölfe“ oder die milizartigen Kosakenverbände mit ihrer „zutiefst konservativ-religiös und militärisch-patriotisch dargestellten Geschichte (...), eng an die orthodoxe Kirche angebundene nationalistische Staatsideologie, die sich nicht zuletzt durch die Abgrenzung von der ,postheroischen Kultur‘ des Westens definiert32“. Beide Gruppierungen fielen durch ihr gewaltsames Vorgehen gegen Oppositionelle auf. Geradezu ikonisch war das Bild Putins beim gemeinsamen Ride mit der Motorrad-Gang auf der Krim 2012. Dieses Bild reiht sich ein in die Bilder von Putin beim Reiten mit nacktem Oberkörper, beim Sport, beim Tauchen, mit einem Tiger und so weiter. Geradezu antipodisch nimmt sich die explizit „feministische Außenpolitik“ aus, die im luxemburgischen Regierungsprogramm festgeschrieben ist33.
Diesem Bild des staats- und gesellschaftstragenden heroischen jugendlichen Kriegers und seinen außen- und sicherheitspolitischen Wirkungen steht in Westeuropa und den nicht Trump-affinen Teilen der US-Gesellschaft ein anderes Bild entgegen, das von einer neuen Mittelschicht getragen wird. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschrieb das Muster der Muta-
tion der Grünen von der Bewegung zur Parlamentspartei: „Seither fließen Kritik und Protest, individualisierte Freiheitlichkeit und ökologische Sorge, das Achtundsechziger-Erbe und die Experimente mit Lebensformen, sämtliche Fermente kultureller Modernisierung ins parlamentarische System ein. Dort können sie artikuliert werden und auf staatliche Hege hoffen, ja zu Staatszielen aufsteigen.34“
Die ökologischen und sozialen Ziele wurden und werden von allen relevanten Parteien im Prinzip geteilt, ähnlich wie die Sozialdemokratisierung aller relevanten Parteien in der Nachkriegszeit. Nicht die Regierungsrolle per se, sondern vor allem das Ressort Verteidigung scheint auf den ersten Blick ungewohnt und für Teile der grünen Anhängerschaft beziehungsweise der Öffentlichkeit gar unmöglich. Diese Unvereinbarkeit wird von Teilen der Anhängerschaft mit dem Anspruch absoluten Pazifismus’ begründet. Es war bezeichnenderweise der Altlinke und grüne Fundi Jürgen Trittin, der sicherheitspolitischen Generalverweigerern gesinnungsethischen Vulgärpazifismus vorwarf35. Manifest wurde der grüne Zwiespalt durch das medienwirksame Eindringen der grünen EU-Abgeordneten Tilly Metz in eine belgische Nato-Militärstruktur, in der auch Atomwaffen gelagert werden. Dieses Vorgehen wurde durch den grünen Verteidigungsminister Bausch ob der offensichtlichen Illegalität verurteilt. Dem gegen erneutes atomares Wettrüsten gerichteten Ansinnen von Tilly Metz an sich spricht er jedoch nicht die Legitimation ab. Bausch macht aber falsche Form und falschen Zeitpunkt aufgrund veränderter geopolitischer Rahmenbedingungen geltend. Dass die Aktion die Partei schwächt oder spaltet, glaubt er nicht36.
Die Grünen als Motor und Speerspitze des mittlerweile weithin gesellschaftlich akzeptierten und gelebten soziokulturellen Wandels sehen ihre Errungenschaften durch das kulturelle Gegenmodell, das heißt die toxische Männlichkeit des traditionalen Kulturkonzepts heroischer Gesellschaften, am stärksten bedroht. „Problematisch im globalen Maßstab sei die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Während der Westen bereits ins postheroische Zeitalter eingetreten ist, blühen in anderen Teilen der Welt heroische Mentalitäten auf materieller (Vielzahl der Söhne) und ideeller Grundlage (religiöse Vorstellungen).37“
Weniger der parteipolitische Aufstieg der Grünen als vielmehr die kulturelle Ergrünung weiter Teile der Gesellschaft legitimiert die militante, unter Umständen auch militärische Verteidigung des Erreichten gegen kulturfremde Bedrohungen im weitgehenden sozialen Konsens.