Zwischen Leben und Tod

Kurios!

d'Lëtzebuerger Land vom 14.04.2011

Am 9. Oktober 1954 schreibt Thomas Mann circa zehn Monate vor seinem Tod in sein Tagebuch: „Wunderlicher Lebenstraum, der bald ausgeträumt sein wird. Kurios, ku-rios. Das habe ich früh gesagt und werde es zuletzt sagen.“

Nun das frühe Zitat, auf das er sich hier bezieht, steht in den Buddenbrooks an einer wichtigen Stelle. Nach dem Tod seiner Frau Antoinette (Teil II, Kapitel 4) und als ein Vorzeichen, wenn nicht gar eine Ankündigung seines eigenen Todes, kommt dieses Adjektiv immer öfter aus Johann Buddenbrooks Mund. „Er dachte nicht viel, er sah nur unverwandt und mit einem leisen Kopfschütteln auf sein Leben und das Leben im allgemeinen zurück, das ihm plötzlich so fern und wunderlich schien, dieses überflüssig geräuschvolle Getümmel, in dessen Mitte er gestanden, das sich unmerklich von ihm zurückgezogen hatte und nun vor seinem verwundert aufhorchenden Ohr in der Ferne erhallte... Manchmal sagte er mit halber Stimme vor sich hin: ‚Kurios! Kurios!‘“ Selbst nachdem Antoinette „ihren letzten, ganz kurzen und kampflosen Seufzer getan hatte (...) – da änderte sich seine Stimmung nicht, da weinte er nicht einmal; aber dies leise, erstaunte Kopfnicken blieb ihm, und dies beinahe lächelnde ‚Kurios‘ wurde sein Lieblingswort ... .“ Etymologisch verweist das aus dem Französischen stammende Wort auf das Lateinische cura und moniert damit eine gewisse Sorge oder Sorgfalt, die im Umgang mit solchen Dingen zu gebrauchen ist. Der vereinfachenden Lebenshaltung des mit beiden Füßen im Leben stehenden Johann war eine solche Sorge bisher fremd gewesen.

Dieser selbstsichere und lebenstüchtige Mann wird nun immer apathischer und tritt aus dem Geschäft zurück, das er seinem Sohn überlässt, Johann Junior, auch Jean genannt. Er beginnt wohl im Alltag der Welt um ihn herum Dinge wahrzunehmen, die eigentlich erstaunlich sind: über ihnen allen schweben das Leben und der Tod, das Sein und das Nichts, die schon Eigentümlichkeiten an sich sind.

Einige Monate nach dem Tod seiner Frau wird er bettlägerig und verabschiedet sich mit Mahnworten von seinen Söhnen „– worauf er schwieg, alle anblickte und sich mit einem letzten ‚Kurios!‘ nach der Wand kehrte... .“ Wir wissen, dass das Staunen der Anfang aller Philosophie ist. Johann Buddenbrooks bisher ungebrochenes Weltverhältnis und -verständnis zeigt im Schatten des Todes Risse in dieser Mauer. Mit dem Lieblingsausdruck der letzten Lebenszeit, „Kurios“, tritt er staunend quasi an den Anfang aller Philosophie: Die Frag- und Merkwürdigkeit aller Dinge, des Lebens und des Todes. Und es ist wohl kein Zufall, wenn sein Enkel Thomas sich vor seinem Ende zeitweise von der Philosophie Schopenhauers überwältigt und im Tiefsten gerechtfertigt fühlt. Über ihn, der weiter und tiefer geht, heißt es dann im Unterschied zu seinem Großvater: „..zu tief aber, zu geistreich und zu metaphysisch bedürftig, um in der behaglichen Oberflächlichkeit des alten Johann Buddenbrook Genüge zu finden...“ Ja, diese Lektüre vermittelt Thomas gerade im Verständnis eines beglückenden Todes wahrhafte Zustände des Rausches. „Was war der Tod? (...) Der Tod war ein Glück, so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang (...).“

Man hat den Eindruck, dass dem gesund-gewöhnlichen Vorgänger an dieser Scheidewand zwischen Leben und Tod dessen Rätsel nunmehr als Kuriositäten erscheinen, und wie „kurios“ wäre ihm wohl der Tod seines Enkels Thomas erschienen, von dem man sagen wird: „An einem Zahne ... Senator Buddenbrook war an einem Zahne gestorben, hieß es in der Stadt. Aber, zum Donnerwetter, daran stirbt man doch nicht!“ Sein Großvater Johann hätte das vielleicht in seinen letzten Tagen anders gesehen und sein „Kurios“ gesagt.

Jacques Wirion
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